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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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gar nicht der Vorsitzende Mao, den man dort in den Fels gemeißelt hatte. Hoch über mir stand ein Abbild Buddhas, das größte, das ich je gesehen hatte. Die Nische, in der er lehnte, hatte die Form eines Rechtecks und wurde von einer Art Kuppel überdacht. Solche Statuen gab es viele; sie wurden von den Jungkommunisten zerschlagen und unkenntlich gemacht. Bei besonders großen setzten sie Sprengkörper ein. Dieser Buddha war noch unversehrt. Der Kopf allein nahm die ganze Kuppel ein. Sein Gesicht war ein vollendetes Oval, sanft geformt, die Ohrläppchen ein wenig verlängert. Durch die leicht gesenkten Lider schienen die Augen gleichermaßen nach innen und in die Weite der Welt zu blicken. Eine Hand, in Brusthöhe erhoben, deutete einen Segen an, die andere war in der Meditationsgeste leicht gefaltet. Eine Hüfte war ein wenig eingeknickt, damit der Körper eine anmutige Linie bildete, und das Steingewand lag in geraden, würdevollen Falten um seine Schenkel. Doch nicht die Schönheit der Statue fesselte mein Auge - den Sinn für solche Dinge hatte ich längst verloren -, sondern ein unglaublicher Anblick: Buddha weinte! Aus den halb offenen Augen liefen Tränen über sein Antlitz, den wehmütigen Lippen entlang, tropften langsam auf den steinernen Umhang.
    Heute, mit klarem Verstand, will ich meinen, dass dieser aufwühlende Vorgang eine ganz natürliche Ursache hatte. In der Nacht hatte die Schneeschmelze eingesetzt; die hohe, schwere Eiskrone, die Buddhas Haupt seit Winterbeginn trug, verwandelte sich langsam in Wasser. Doch in diesem Augenblick war ich zu solcher Sachlichkeit nicht fähig - zu keiner Sachlichkeit überhaupt. Ich starrte auf den weinenden Buddha, auf die Tränen, die im aufkommenden Morgenlicht immer heller glitzerten. Die ganze aufgeblähte Ethik um das Volk, die im Chor gebrüllten Parolen, die Menschen in abgestumpfte Werkzeuge und Kinder in Ungeheuer ohne Mitleid verwandelten, verblassten
bei diesen Anblick zu vollkommener Sinnlosigkeit. Musste ich sterben, damit ich das endlich begriff? Buddha weinte, und seine Tränen brachten mich zu meiner unschuldigen Kindheit zurück, zu den Jahren der Märchen und Wunder, der Fürsorge und der Liebe. Die vielen Jahre im Arbeitslager hatten mich zum seelischen Krüppel gemacht, zu einem gewissenlosen Monstrum, tragisch unfähig, das Böse in mir selbst zu erkennen. Ich warf beide Hände vors Gesicht, damit Buddha nicht sehen konnte, was für ein abscheulicher Mensch ich war. Doch seine weinenden Augen sahen durch meine Hände hindurch, und als eine ungeahnte Wärme meine Brust erfüllte, wusste ich, dass meine Seele, unbemerkt und lautlos, mit der aufgehenden Sonne zu mir zurückgekehrt war, sich zart und empfindsam in mir regte. Die Scham, die Reue, löste in mir ein trockenes Schluchzen aus. Endlich flossen auch bei mir die Tränen, ich beweinte den Verlust meiner Kindheit, Lhamos Verachtung und die entschwundene Zuneigung meiner kleinen Schwester. Ich weinte, bis ich nicht mehr weinen konnte und der laue Wind auch auf Buddhas Antlitz jede Träne getrocknet hatte. Und erst als die Sonne die steinerne Statue beschien, kam ich wieder völlig zu mir, suchte mit tastenden Fingern die Ursache meiner Schmerzen. Da wurde mir bewusst, dass ich einen Beckenbruch hatte, mich nicht vom Fleck rühren konnte und ohne Hilfe hier wohl würde sterben müssen.
    Und seltsamerweise gab mir diese Gewissheit Frieden. Mein Körper war entzweigebrochen, genau so wie mein Geist zuvor. Doch jetzt war ich mir klaren Verstandes sicher, dass ich nicht mehr zu den Pionieren gehören wollte, dass ich sie auch nicht zu Hilfe rufen konnte. Ich musste verhindern, dass sie die Statue entdeckten und zerstörten. Dieser Buddha, der um mich geweint hatte, brauchte meinen Schutz, selbst wenn ich mein Leben dabei verlieren sollte. Im Lager hatte man mir beigebracht, dass ein Menschenleben nicht mehr wert ist als das einer Ameise oder eines Vogels. Es machte mir nichts aus, dass
ich hier sterben sollte, mit dem Stein als Kissen und dem Wasser des schmelzenden Schnees als letztem kühlendem Trunk. Meine Seele war wieder da, bei mir, ich hielt sie mit beiden Armen fest. Ach, was erwartete mich noch in dieser Existenz? Meine Schwestern hassten mich, meine Eltern waren weit weg oder tot, meine Freunde auf der Flucht und mein Haus zerstört. Der Vorsitzende Mao Tse-tung war eine aufgeblasene Selbstdarstellung, ein Trugbild. Wer Gott sein will, ist kein Gott, sondern nur ein Tyrann. Ich war

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