Das Haus der Tibeterin
aus der Luft gesehen, gleich Märchenstädten leuchteten, Schmutz und Elend verbargen, wie die schönen Frauen Asiens ihre Armut mit bunten Gewändern verhüllten. Dann Wolken, weiß und silbrig glänzend; und später ein hoher Himmel, schwindelerregend, und darin ein weißes Sonnenfeuer. Und noch später, Stunden später, das langsame Anwachsen und Näherkommen der Himalaya-Kette, die höchsten Schneegipfel der Welt. Die Maschine senkte sich, von Windstößen geschüttelt. Alles schepperte, dröhnte, pfiff, ein leerer Cola-Becher rollte über den Gang. Wir näherten uns Kathmandu.
EINUNDVIERZIGSTES KAPITEL
D ie Maschine startete mit drei Stunden Verspätung. Was hätte ich anders erwarten können? Die zwei Tage in Kathmandu waren nervenaufreibend gewesen. Ich hatte das Getue überstanden, zu müde, um irgendwelchem Unwillen Ausdruck zu verleihen. Und das, obwohl meine Nerven angesichts dieser Überalterung, dieser Unfähigkeit und dieser schnöden Profitgier wütend zuckten. Mit stoischer Ruhe füllte ich die nötigen Formulare aus, ertrug die Geduldsprobe mit gelangweilter Miene. Es ging ja nicht anders. Ich war nie an diesem Ort gewesen, kannte diesen Flugplatz nicht; auch das Hotel, prunkvoll exotisch, ließ mich unbeeindruckt. Immerhin konnte ich schlafen und auch ein paar Runden im Swimmingpool drehen. Das Wasser war nicht sauber, fühlte sich aber weich und angenehm kühl an. Dann wieder der Minibus, der uns zum Flughafen brachte, das Gedränge und das Schlangestehen, das arrogante Vorbeischlendern der Piloten, der heiße Atem der Triebwerke. Die aus Neu Delhi kommende Boeing 747 der China South-West Airlines sah erschreckend vernachlässigt aus, die Stewardessen machten kalte, uninteressierte Gesichter. Die Maschine startete mit lautem Krach, flog im Gegenwind, rumpelte und legte sich seitwärts. Es war bereits Nachmittag; unter uns glitten die Gipfel dahin, die berauschenden Weiten, die Pässe, die eisigen Bergflanken, schneebedeckt und schwindelerregend: Tibet. Dann kam eine Wolkenfront auf, die Maschine schepperte und hüpfte in grauer Watte, stieg höher in das harte Azurblau des Himmels. Über den Wolken säumten
die Gipfel des Himalayas in langer Reihe den Horizont, wuchsen empor, rückten näher - weite kahle Hochebenen, lauernde, schwarze, weißgeäderte Eisberge. Auch als sie näher kamen, war kein Dorf zu sehen, kein Wald, kein Weg. Nur die Adern dunkler Wasserläufe waren in diese Landschaft gegraben, wie Handlinien, die am Horizont zu dünnen Linien wurden, sodass das Auge sie fast nicht mehr sah. Angesichts dieser brutalen, in die Wolken geschleuderten Felsmassen fühlte ich eine starke Beklemmung, einen Kloß in der Kehle. Es war, als ob die Welt nur aus zwei Dimensionen bestand, aus Weite und Höhe. Ich musste an die Flüchtlinge denken, die Bergpässe und Hochebenen auf blutigen Füßen überwunden hatten. Wie schrecklich, wie unerträglich grausam musste die Volksarmee gewütet haben, dass Tausende dieses Wagnis auf sich nahmen! Gott allein, falls es Ihn gab, mochte wissen, was sie erdulden mussten. Und die Flucht setzte sich fort, auch heute noch. Diese Menschen waren Helden, ja, auch die Kinder, die sie an der Hand führten. Sie wussten bei jedem Schritt, dass ihr Leben auf nacktem Gestein, im blendend kalten Schnee oder im Gischt sprühenden Flusswasser abrupt enden konnte. Aber lieber der Tod als das Joch Rotchinas! Die Berge machten ihnen weniger Angst. Sie waren gewaltig, gefährlich, aber manchmal auch mild. Die Tibeter setzten sich dem Urteil der Berge aus. Denn auf den Gipfeln wohnten die Götter.
Hatte ich geschlafen? Wohl kaum. Nachgedacht hatte ich. Wir verloren an Höhe. Die Maschine setzte zur Landung an, senkte sich ruckweise, meine Ohren wurden taub. Und in diesem heftigen Einbruch von Stille war mir plötzlich, als sei ich bereits tot. Die Maschine senkte sich, zu scharf, zu rasch, der Pilot hatte es eilig, oder er war ein schlechter Pilot. Mir wurde übel, ich schloss die Augen, verkrampfte mich in der Erwartung des Schocks. Schon berührte das Flugzeug die Landepiste, hüpfte wieder hoch, vollführte ein paar Zickzackbewegungen und rollte endlich gleichmäßig, bis es stillstand. Wir waren in Lhasa.
Im dunstigen Licht des Nachmittags wankten wir aus der Maschine, endlosen Kontrollen entgegen. Die Daten jedes Reisenden wurden akribisch im Computer gespeichert. Die Bergsteiger mit ihren Rucksäcken, die Lehrerin, behängt mit Fotoapparaten, die leicht wankenden Lausanner
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