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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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zeigte. Warum nur nicht?
    Wer die Vergangenheit nicht kennt, richtet alles nach seiner Fantasie ein. Aber Fantasie war nicht immer genug. Schmerzlich sagte ich mir, dass ich ohne Hilfe nicht in die Vergangenheit greifen und die Stücke einer verlorenen Geschichte zusammensetzen konnte. Siegt aber die Wunschkraft, wird die Vergangenheit heller und leuchtender, schimmert sie über Zeit und Entfernung hinweg. Was hatte Sonam erlebt, das auch Longsela erlebt hatte? Das war der Kern der Frage.
    Emotionen sind eine lästige Angelegenheit; ein paar Tage lang machten sie mir das Leben schwer. Ich trug zu viele Bilder in meinem Kopf, die sich nach und nach auf ganz unbegreifliche Weise vervielfältigten und am Ende nicht mehr aus mir hinauszuscheuchen waren. Einige der Bilder gewannen in dieser Hinsicht eine schrecklich allegorische Größe, erschienen mir als Sinnbilder einer unbekannten Tragödie. Sie waren von undurchdringlicher Trauer geprägt, ihr imaginäres Leben verfolgte mich. Ich fragte mich, wie weit ich diese Visionen bewusst produzierte. Aber nein, sie entstanden von selbst. Vor allem einzelne Figuren waren immer da, ohne dass ich etwas daran hätte ändern können. Wenn solche Gestalten in dramatische Konflikte verwickelt wurden, konnte ich manchmal den Gang der Ereignisse aus eigenem Willen ein bisschen mitbestimmen. Aber immer wieder stieß ich an Grenzen. Die Vergangenheit lag unter Steinen begraben, die Toten wurden nicht wieder lebendig, bloß weil ich es wollte. Ich gehörte einer Generation an, die sich nicht mit Visionen zufriedengab, sondern Tatsachen forderte.
    Im Grunde rief mich Sonam um Hilfe an. Ihre hartnäckige Ablehnung war nichts als ein verzweifelter, stummer Hilferuf. Ihre Seele war wieder an die Orte des Schreckens zurückgekehrt, alle Not und Verzweiflung waren wieder da. Sie beweinte
die Kindheit, entsann sich an den Hunger, das Elend, an die Grausamkeit und an die Liebe, die sie gerettet hatte. Sie war von den Erinnerungen besessen, ganz davon in Anspruch genommen. Vergangenheitsbewältigung nannte man das. Ich hatte als Katalysator gewirkt. Du verdammter Dickschädel, sprach ich zu mir selbst, du hast mal wieder viel Staub aufgewirbelt. Sieh zu, wie du die Geschichte wieder in Ordnung bringst, die du da angerichtet hast!
    Auf mein Orakel konnte ich diesmal nicht zählen. Ich fand eine SMS von Chimie vor.
    »Fliege nach New York. Bin eine Woche unterwegs: die Firma. Sparmaßnahmen, nur Touristenklasse. Zum Glück bin ich schlank.«
    Ich dachte immer logisch, und ich dachte schnell. Ich konnte meine Herkunft nicht einfach in eine Schublade stecken. Ich konnte sie überwinden, das schon. Und ich konnte mich von meiner Neugier leiten lassen. Aber da gab es nicht viele Wege. Im Grunde genommen gab es nur einen, auch wenn er in eine Sackgasse führte.
    Ich hatte noch eine Woche Urlaub. Ich bat um drei Tage mehr - ein verlängertes Wochenende, das ich im Sommer würde hereinarbeiten können. Die Bitte wurde mir gewährt.
    Das Gefühl, wieder die Fäden in der Hand zu halten, machte mir das Leben sofort leichter. Ich tippte eine SMS an Chimie.
    »Fliege nach Lhasa. Touristenklasse. Bin zehn Tage unterwegs. Muss ich Angst haben?«
    Chimie antwortete umgehend mit den rätselhaften Worten einer Zauberin. Würde mich jemals wieder jemand so gut kennen, die Wahrheit in mir sehen und so völlig mit mir in Einklang stehen? Dann wäre Eingebung ein Kinderspiel, Glück kein Zufall, die Wirklichkeit ein Paradies und alle Träume edelmütig. Chimies SMS lautete: »Du doch nicht.«

VIERZIGSTES KAPITEL
    W er nach Tibet wollte, sah sich im Handumdrehen chinesischer Willkür ausgeliefert. Hegten die Behörden irgendeinen Argwohn gegen die Fremden, sagten sie nicht von vornherein Nein, sondern baten mit großer Zuvorkommenheit um Geduld. Jeder Antrag auf Einreisegenehmigung musste gründlich geprüft werden, je gründlicher, desto länger, sodass aus dem Lange ein Allzu-lange und am Ende ein Überhaupt-nicht-mehr werden konnte. Seit Kurzem aber war die Einreise nach Tibet für Einzelpersonen wieder gestattet, allerdings nur von China aus. Ich hatte zwar einen Schweizer Pass, aber mein tibetischer Name hätte Anlass zu Misstrauen und Stirnrunzeln gegeben. Also beschloss ich, mich einer Gruppe anzuschließen. Hätte ich die Reise in Kathmandu gebucht, wäre mir alles um die Hälfte billiger gekommen und die bürokratischen Hürden wären nicht zu Bergen angewachsen. Aber ich wollte Zeit gewinnen, für mich war

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