Das Haus der Tibeterin
jeder Tag kostbar. Folglich kam ich auf die Liste einer Organisation, die für eine Gruppenreise mindestens fünf Teilnehmer voraussetzte. Auf dieser Liste standen alle Vor- und Zunamen, alle persönlichen Daten und an erster Stelle natürlich Nationalität und Passnummer. Somit erhielten wir ein Gruppenvisum, das vom Computer der zuständigen chinesischen Behörden gespeichert wurde. Ich ging kein großes Risiko dabei ein. Einmal in Tibet, gab es zahlreiche Tricks, um die Gruppe zu ignorieren. Gruppenzwang missfiel den Touristen nämlich sehr, wahrend die Regierung darauf erpicht war, ihre kleinen Herden fest im
Griff zu halten und den Schäfchen möglichst viel Geld abzunehmen. Blöken war gestattet, aber nutzlos.
Ich kämpfte mich tapfer durch den Papierkrieg, bis ich endlich ein Faltblatt von violett-grüner Farbe in der Hand hielt. Auf dem Deckblatt stand »The People’s Republic Of China, Aliens Travel Permit«, drinnen, handgeschrieben, mein Name, meine Reiseroute und die Gültigkeitsdauer. Das Ganze zierte ein großer roter Stempel mit dem Tor des Himmlischen Friedens und vier kleinen Sternen um einen großen - meine Genehmigung, das Autonome Gebiet Tibet in einer Gruppe zu bereisen und ja nicht im Alleingang.
Gegen Beamte hatte ich schon immer eine gesunde Allergie gehabt. Bürokratische Sturheit machte mich aggressiv. In eine Masse gedrängt zu werden war fies und demütigend. Aber anders ging es nicht.
Ein paar Mal hatte ich bereits im Flugzeug gesessen. Die üblichen Ferienziele - Orte, die heiß und farbig waren, an denen es fröhlich und locker zuging. Wo die Menschen gern lachten, unter Sonnenschirmen Eis aßen, bunte Kleider und Bikinis trugen, wo das Meer rauschte und Musik zu hören war. Auf dieser Reise war alles anders: Man existierte, als sei man nicht viel mehr als ein wandelnder Organismus mit einem Erlaubnisschein in der Hand. Für die hehre Gedankenarbeit waren andere zuständig. Ich fühlte mich aufgesaugt, eingefangen und vorwärts getrieben, hatte keinen anderen Bezugspunkt mehr als die Stimme der Reiseführerin. Für das ganze Getue war ich viel zu selbstherrlich. Ich sehnte mich weg, schon jetzt, wo ich doch gerade erst abgeflogen war. Was suchte ich in Tibet? Wie würde das sein, wenn man glaubte, ein Land zu kennen, und am Ende merken musste, dass nichts mehr stimmte? Dass es Punkte gab, zwischen denen die Fantasie sich angesiedelt hatte und die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hatten? Ein läppisches Ergebnis für einen unverhältnismäßigen Aufwand.
Ich hatte Sonam erst angerufen, als ich schon das Visum hatte.
»Amla, ich fliege nach Tibet. Kann ich dir etwas mitbringen?«
Stille. Ich hörte sie atmen, bevor sie kehlig zur Antwort gab: »Warum hast du das für dich behalten? Das ist sehr unfair.«
Ihre Stimme klang erschrocken und beleidigt. Ich hätte es ihr schon vorher klipp und klar sagen sollen. Ich litt jetzt darunter, dass ich sie hintergangen hatte. Warum musste ich permanent alle Leute schockieren?
»Du solltest dir keine Sorgen machen«, rechtfertigte ich mich und fühlte gleichzeitig, wie unecht das klang.
Sonam hatte sich bereits wieder im Griff.
»Was um Himmels willen willst du in Tibet?«
»Hattest du nie Sehnsucht nach Lhasa?«
»Nein, gewiss nicht. Alles ist doch ganz anders als früher.«
»Ich will wissen, ob unser Haus noch steht.«
Sie sagte mit spürbarer Ungeduld: »Lhamo schrieb mir doch, dass alles weg musste. Auch das Haus. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«
»Ich will es mit eigenen Augen sehen.«
Ihre Stimme klang nüchtern, kalt.
»Du hast nichts in Lhasa zu suchen.«
Ich sagte: »Ich würde auch Tante Lhamo gern sehen. Kannst du mir ihre Adresse geben?«
»Wozu?«
Wieder diese Abwehr in der Stimme! Es war, wie wenn Schallwellen andringen. Ich registrierte das Hin-und-her-Zucken ihrer Gefühle wie der Stift eines Seismographen, der als Erdbebenwerte willenlos wiedergibt, was ihm die von fern herandringenden Wellen diktieren.
»Habt ihr euch so gestritten?«, fragte ich.
»Nein. Streit kann man es nicht nennen. Wir sind uns gleichgültig.«
Ich hatte sie satt, sie und ihre Seelenzustände.
»Hör mal, ich habe Tante Lhamo nie getroffen. Meinst du nicht, es ist an der Zeit, dass ich sie mal besuche?«
Sonam gab die Kraftprobe plötzlich auf. Sie klang müde.
»Tu, was du willst. Aber mach dich darauf gefasst, dass sie nicht erfreut sein wird, dich zu sehen.«
Und auch das, meinte ich, war nicht eindeutig erwiesen.
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