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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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solch verzweifelten Aufmerksamkeit, als würde ich jetzt für unendliche Zeit die letzte Gelegenheit dazu haben. Meine Sehnsucht verlor sich rückwärts in die Geschichte, weil sie ja keine Zukunft mehr hatte. Ich wunderte mich über die Niedergeschlagenheit, die mich dabei ergriff. Der Potala barg kein Geheimnis mehr; sein Geheimnis hatte sich verflüchtigt, sich heimlich selbst eingeatmet, sich mit einer Zeit vereinigt, die nicht mehr war. Zurück blieb ein Palast der Winde, eine versteinerte Stille, im Frost der Gezeiten erstarrt. Ich fühlte mich mit einem Mal aller Hoffnungen beraubt, sodass ich beinahe geheult hätte wie ein kleines Kind. Was für eine Tragik lag in alldem, was für ein Netz von Lügen wurde hier gesponnen! Hatte China den Tibetern noch Unterschlüpfe gelassen, in denen sie beten konnten?
    Der Bus hielt und spuckte seine Ladung Touristen vor dem Holiday Inn aus. Jeder suchte seinen Koffer, seinen Rucksack, bevor uns die Reiseleiterin zur Rezeption schleuste. Man hatte mich bereits gewarnt: Im ganzen Hotel waren Kameras, Mikrofone und Bewegungsmelder angebracht. Kellner und Personal trugen tibetische Kleider, aber die meisten waren Han-Chinesen, als Spitzel geschult. Big Brother hieß uns willkommen. Das Zimmer war aufgeräumt und ruhig, funktional ausgestattet, mit Bildern an den Wänden. Reproduktionen eines chinesischen
Künstlers, die Bauern mit roten Wangen, lachende Kinder und hüpfende Zicklein auf dem Feld zeigten. Fehlte nur noch die Pastorale als Begleitmusik; stattdessen erklang chinesische Unterhaltungsmusik. Das Badezimmer war altmodisch, das Licht aus der Neonröhre trüb. Die Geräusche von draußen drangen richtungslos und erstickt zu mir hinüber. Ich hatte einen einzigen Gedanken: Schlafen, damit ich am nächsten Tag wieder einen klaren Kopf haben würde. Ich stellte mich unter die Dusche, wobei sämtliche Rohre schepperten, als ich das Wasser aufdrehte, wusch mir das Haar, befreite mich von den Schlacken der Reise. Dann nahm ich ein leichtes Schlafmittel, warf mich aufs Bett, starrte zur Decke und löschte das Licht. Die Dunkelheit schlug über mir zusammen. Ich schlief, und im Schlaf trat die Verwandlung ein. Ich wachte auf und fühlte mich ausgesprochen gut, ausgeruht und voller Tatendrang. Mit Utopien würde ich umgehen können, mit Desillusionen auch.

ZWEIUNDVIERZIGSTES KAPITEL
    Z wischen dem VW-Emblem und dem Funkhaus stand auf einem Sockel ein goldglänzender Riesenyak. Auf einem anderen Sockel spannte ein Reiterkrieger auf einem sich bäumenden Pferd seinen Bogen. Wie hätte Alo, wäre er noch am Leben, die kitschige Verherrlichung seiner selbst wohl empfunden? Aber Nomaden sind Zyniker; die bronzene Darstellung hätte er als Abbitte gutgeheißen und herablassend belächelt. Indessen, Lhasa war eine Baustelle. Reihen von Kränen starrten in die Luft, Bagger wühlten im Schutt. Man hörte Bohren und Hämmern und Rattern, sodass man sein eigenes Wort nicht verstand. Nicht nur, dass Lhasa bombardiert worden war; in der Zeit der Kulturrevolution hatte die »Viererbande« arg gewütet. Ganze Stadtviertel waren zerstört worden. Die Roten Garden hatten den Bewohnern befohlen, das Holz aus den Mauern zu reißen - logisch: Zog man die Balken heraus, hielt der Mörtel nicht mehr, und die Häuser stürzten ein. Heiligtümer wurden mit Spitzhacken dem Erdboden gleichgemacht, Statuen zerschlagen, eingeschmolzen oder mit revolutionären Sprüchen beschmiert. Und jedes Haustier wurde getötet, jeder Blumentopf zerschlagen. Aber die Roten Garden, sagte Frau Chang, unsere resolute Reiseleiterin, hatten sogar im chinesischen Mutterland viel Schaden angerichtet. Auch die Revolution machte Fehler, nicht wahr? Wichtig war, dass man aus den Trugschlüssen lernte. Heute wurden Häuser und Kunstwerke mit großem Einsatz restauriert. Touristen sollten ins Land kommen und sich davon überzeugen, wie
gut es den Tibetern jetzt ging, wie hoch ihre schöne Kultur geschätzt wurde. Solches und Ähnliches erzählte Frau Chang, die sich freimütig dazu bekannte, ein »Graupelkind« zu sein. Sie benutzte dabei den Ausdruck »Khang ma char« - weder Regen noch Schnee -, der sich auf die Mischlinge bezog, die zur Hälfte Tibeter und zur anderen Hälfte Chinesen waren. Indem Frau Chang dies nicht für sich behielt, bewies sie einen aufgeklärten Geist. Wobei ich allerdings das Gefühl hatte, dass sie sich recht krampfhaft mit ihrer chinesischen Seite identifizierte. Ich konnte nicht erkennen, woher mich

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