Das Haus der Tibeterin
Gottsucherinnen - sie alle wurden gründlich durchsucht, durchleuchtet und betastet. Am schlimmsten erging es den Exil-Tibetern, die in Kathmandu in die Maschine gestiegen waren. Weil ich ja wohl oder übel mit dieser Gattung auch etwas zu tun hatte, musste ich das Gleiche erdulden. Wir wurden mit kalter Freundlichkeit in eine verhängte Kabine geführt, wo wir endlos über Familie, Herkunft, Bankkonto und Beruf ausgefragt wurden. Als Besuchsadresse in Tibet gab ich das Holiday Inn an, das das Zürcher Reisebüro für uns reserviert hatte. Ob ich noch Verwandte in Tibet hätte? Ja, eine Tante, aber ich wusste nicht, ob sie noch lebte. Konnte ja sein, dass sie inzwischen gestorben war, verdammt! Name und Adresse dieser Tante? Alles wurde in den Computer eingegeben. So, und bitte jetzt ein Fingerabdruck! Danach wurde jedes Gepäckstück durchwühlt, was zwei italienische Bergsteiger zu gestikulierenden Protesten trieb und ihre britischen Kollegen zu schicksalsergebener Stille. Ich hatte kaum Gepäck, nur meinen Rucksack, etwas Wäsche, T-Shirts, einen Pulli zum Wechseln. Und als einziges Geschenk eine kleine Schachtel Pralinen für Lhamo. Die rote Schleife wurde aufgebunden, das Päckchen geöffnet, die Pralinen minutiös gemustert. Die chinesische Beamtin schnüffelte ausdruckslos an jeder. Ich dachte: Dir läuft ja schon das Wasser im Mund zusammen. Nun mach schon, los, bediene dich doch! Aber offenbar war sie nur auf der Suche nach Rauschgift. Schachtel und aufgerolltes Band wurden mir gleichgültig wieder zugeschoben.
Schon wartete der Reisebus, der uns über eine breite, baumgesäumte Ausfallstraße in die Stadt brachte. Die Straßen waren von rot-weiß gestrichenen Eisengittern flankiert und an jeder
Kreuzung mit Zebrastreifen markiert. Es gab sogar Blumenbeete. Lhasa war eine saubere Stadt. Überall waren Straßenfeger tätig, die einen weißen Mundschutz trugen. Nahe beim Zentrum säumten Restaurants, mit großen Schriftzeichen und roten Lampions gekennzeichnet, die Straßen. Wo war ich eigentlich? In China? Der Verkehr nahm zu. Der Reisebus steckte im stockenden Verkehr zwischen Fahrrädern, Mopeds, Autos und Lastwagen, schob sich durch eine Geräuschkulisse aus Geschrei, Gelächter und Gehupe. Altmodische Klapperkisten rollten hier als Taxis, bliesen Abgase in die Luft. Wir fuhren an Warenhäusern, Klubs, Imbissbuden, Cafés und Drogerien vorbei, an mehrstöckigen Mietskasernen, alle weiß gestrichen, alle gleichermaßen unschön. Ich erfuhr, dass sie als Luxusbauten für die eingewanderten Chinesen bestimmt waren, die in ihrem Wohnbezirk ein Abbild ihrer Heimatstadt geschaffen hatten. Über Fassaden und Plattenbauten prangten grellbunte Werbeplakate. Sozialistische Gleichmacherei in neuzeitlicher Aufmachung. War ich um die halbe Welt gereist, um das zu sehen? Lhasa war ein Ort der Entfremdung. Müde lehnte ich mich zurück. Ich hätte es voraussehen müssen. Ich hatte zu wenig Abstand zu mir selbst, fühlte mich hilflos und verloren. Undurchlässig war die Wand zwischen Früher und Nie-mehr, wölbte sich hoch in die Luft, jener Schweigezone entgegen, wo die Berge aufragten und Raubvögel kreisten. Allmählich wurden die Straßen schmaler, die Werbeplakate seltener. Wir fuhren durch die »Tibeterstadt«, eine Bezeichnung, die mir nicht viel sagte, bis uns erklärt wurde, dass sich in der Nähe der Barkhor befand, der alte Marktplatz; dass noch Teile des »Mittleren Umrundungswegs« sichtbar waren, der zum Jokhang führte, dem größten und heiligsten aller Tempel, den man die »Kathedrale von Lhasa« nannte. Mein Herz tat einen Sprung. In diesem Bezirk hatte einst unser Haus gestanden. Vielleicht stand es noch? Doch alles, was ich sah, war trostlos und schmutzig. Verkommene Gebäude, blinde Mauern,
bröckelnde Gesimse, die Fenster mit Brettern vernagelt. Eine Art vernachlässigtes Freilichtmuseum, früher oder später dem Untergang geweiht. Plötzlich aber ging ein aufgeregtes Raunen durch den Bus. Alle lehnten sich seitwärts, drückten die Gesichter an die Fenster. Denn am diesigen Himmel war unvermittelt der Potala ins Blickfeld gekommen, mit aufgetürmten Terrassen, Pfeilern und Mauern, die aus dem Felsen wuchsen. Eine unwirkliche, atemberaubende Geisterburg, die Stufe um Stufe emporwuchs, sich ausdehnte, das Stadtbild beherrschte. Ein Anblick, der mich ein paar Atemzüge lang für vieles entschädigte, der mir die farbigen Bilder meiner Fantasie zurückbrachte. Ich betrachtete das Bauwerk mit einer
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