Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
Vom Netzwerk:
Ich sagte zu Amla: »Lassen wir es darauf ankommen!«
    Daraufhin rückte sie Lhamos Adresse heraus. Ihre Telefonnummer kannte Sonam nicht. Lhamo hatte auch keine Mailadresse. Den letzten Brief von ihr hatte Sonam vor sechs Jahren erhalten. Sie hatte auch keine Ahnung, ob Lhamos Anschrift noch die richtige war. Lhamo hätte sterben können, ohne dass Sonam es gewusst und ihr eine einzige Träne nachgeweint hätte. Wie sonderbar! Ich notierte also die Adresse. Zu guter Letzt sagte Sonam: »Und noch etwas, Dolkar. Sei vorsichtig, wenn du in Lhasa bist. Manchmal hast du ein Mundwerk! Chinesische Spitzel können überall sein.«
    Das melodramatische Zeug hatte ich inzwischen satt. Aber da ich nicht wollte, dass sie meinetwegen schlaflose Nächte verbrachte, versprach ich es ihr, obwohl ich mir jetzt schon wie in einem Spionagethriller aus Hollywoods Filmkiste vorkam. Danach schrieb ich ein paar Zeilen an Lhamo und brachte den Brief schnell zur Post. Mit etwas Glück erhielt Lhamo meine Nachricht fast zur gleichen Zeit, da ich in Lhasa eintreffen würde. Wenn nicht, dann nicht.
    Am nächsten Tag also der Start. In Kloten lernte ich die Mitreisenden kennen. Nette Leute, zweckmäßig in wasserdichte Jacken gekleidet, mit Videokameras und Fotoapparaten beladen. Sie hatten zusätzlich dafür bezahlt, filmen oder fotografieren zu dürfen. Einige von ihnen sahen die Reise als Selbstfindungstrip. Sie träumten von weisen Mönchen, von ehrwürdigen »Mani-Steinen« und prachtvoll restaurierten Klöstern. Religiöse Gefühle, Glaube an die Menschheit: Die
Bilder in ihren Köpfen waren schön. Zu der Gruppe gehörten drei Studenten des Ostasiatischen Instituts, eine fotobegeisterte Lehrerin aus Thun, ein Basler Journalist. Zwei liebenswerte Damen aus Lausanne, die Aline und Alice hießen, trugen orangerote Ponchos, selbst gestrickt, und derbe Sandalen an den nackten Füßen. Strapazen sahen sie tapfer entgegen, waren sie doch auf einem Erleuchtungstrip. Mir, der Vertreterin tausendjähriger buddhistischer Hochkultur, begegneten sie äußerst respektvoll, bis ich bekannte, dass ich mit Metaphysik wenig am Hut hatte. Da wurden sie ein wenig distanziert. Die Reise war für mich eine Rückkehr zu den Ursprüngen, an denen die Sehnsüchte, die Vorlieben, die Neurosen geformt werden. Irgendwo zwischen diesen Ursprüngen und dem Heute verlief ein Bruch, eine Zäsur, die ich zu füllen hatte. Eigentlich fühlte ich mich dabei mit den Bergsteigern verbunden, den Italienern, den Briten, alle mit ihrer Trekkingausrüstung unterwegs. Bergsteiger waren eine eigene Gattung, und ihre Ziele waren leichter zu befriedigen als die der ewig Suchenden. Ihre Muskeln waren perfekt durchtrainiert. Sie waren fähig, sich in einem Schneesturm mit Vitamintabletten am Leben zu halten. Sie waren sich bewusst, wie gleichgültig Gottes Welt doch mit den Menschen umging. Sie verloren sich in ihrer Kleinheit unter einem schwankenden Himmel. Aber sie standen als Menschen aufrecht. Bürokratischen Schikanen begegneten sie zumeist mit milder Geduld. Sie kämpften lieber mit den Bergen.
    In diesem Flugzeug, das mich über die halbe Weltkugel trug, geschah plötzlich die Umwandlung. Von einem Atemzug zum anderen begann ich unglücklich zu sein. Unglücklich auf heftige, leidenschaftliche Art. Die Vergangenheit hatte bereits zugeschlagen. Vor meinen Augen stand ein Bild Tibets, das nicht mehr war. Ich kam aus der Ferne; eine noch größere Ferne erwartete mich. Meine Frage an Chimie war berechtigt gewesen. Ich hatte wahrhaftig Angst.

    Stunden vergingen, viele Stunden. Ich stülpte meine Schlafbrille auf, versuchte zu schlafen, obwohl durch das Sitzen meine Arme steif wurden, verfiel in Selbstgespräche, die rundherum immer im Kreis verliefen.
    »Dolkar, du bist überdreht. Nimm eine Schlaftablette.«
    »Keine Schlaftablette, nein. Ich muss denken.«
    »Du kannst nur denken, wenn du gut ausgeschlafen bist.«
    »Keine Schlaftablette!«
    »Dann sieh zu, wie du fertig wirst.«
    Die Triebwerke summten, der Schlaf kam von selbst. Ich schlummerte ein.
    Zwischenlandung in Karatschi. Ein roter Sonnenglanz, der durch Staubschichten flimmerte. Heiße Treibhausluft, eiskalte Ströme aus der Klimaanlage. Menschen, die langsam gingen, sich langsam bewegten, die edle Gesichter und kluge Augen hatten und mit den anmutigen Gesten der Meditation den Boden fegten. Seltsam!
    Dann Nepal, die ersten Höhenzüge. Tief unten eine ockergelbe Landschaft mit weichen grünen Kuppen. Städte, die,

Weitere Kostenlose Bücher