Das Haus der Tibeterin
das Gefühl von Enge und Ersticken ankam, waren wir doch von Sauberkeit, gläsernen Fassaden und grünen Rasenstücken umgeben. Das maßlose Wachstum hatte etwas bedrückend Seelenloses an sich. Unsere eingeschüchterte Gruppe ging Straßen entlang, die alle gleich aussahen. Wir waren zu dem aufgebrochen, was Rico, der humorvolle Basler Journalist, als »Klosterrallye« bezeichnete. Frau Chang spazierte voraus, hielt ein kleines Fähnchen in die Luft und sprach in ein Mikrofon. Ihre Stimme klang freundlich und überzeugend. Wir folgten ihr im gehorsamen Trab. Die Bergsteiger hatten schon frühmorgens ihren Reisebus bestiegen. Für sie war Lhasa nur eine Etappe gewesen. Ihr Ziel war irgendein Gipfel.
Inzwischen machten Aline und Alice verwirrte Gesichter. Denn von Beschaulichkeit war bisher wenig zu spüren. Lhasa war bevölkert von einer Generation junger Leute in Jeanshosen, Jeansjacken und Jeanskappen. Ausgesprochen gut aussehende junge Frauen und Männer mit glänzendem schwarzen Haar und Gesichtern, die wie Gold schimmerten, mit einem rötlichen Hauch. Sie trugen schwarze Ray-Ban-Imitationen, gaben sich lässig und provozierend unbekümmert. Sie standen in Gruppen herum, rauchten amerikanische Zigaretten, lachten mit schönen Zähnen, neckten sich und flirteten. Doch irgendetwas war nicht, wie es sein sollte. Ich brauchte lange um herauszufinden, was es eigentlich war: Die jungen
Tibeter verweigerten den Blickkontakt. Etwas sehr Gewalttätiges hatte ihre Blicke geraubt, ihr Lachen überlaut und hektisch gemacht. Ich war eine Touristin, man sah es mir an und ging mir aus dem Weg. Big Brother, auch hier. Frau Chang hielt es für angebracht, uns auch die Bars zu zeigen. Lustige, zahlungskräftige Leute hingen dort herum, rauchten, tranken, lachten. Auf den Barhockern saßen chinesische Prostituierte in gespielt unbeteiligter, eleganter Haltung. Sie hatten kindliche Gesichter mit gierigen Augen und dünne weiße Schenkel. Alle trugen komplizierte Frisuren und Plateausohlen, die sie größer machten. Kleingewachsene Frauen galten als unschön. Chinesen aus dem Mutterland saßen im lauten Gespräch, gestikulierten, schütteten Gelächter über überfüllte Aschenbecher aus. Die neue Eisenbahnverbindung hatte Tibet und China näher zueinander gebracht; hier gab es viel Geld zu verdienen. Wir kamen an Einkaufszentren vorbei, an Karaoke-Bars, an Spielhallen, an Peepshows. Junge Leute mit Sonnenbrillen protzten in schweren japanischen Geländewagen mit Allradantrieb, mit viel Chrom und getönten Scheiben. Motoren wurden hochgejagt und herrisch wieder gebremst. Staub, Abgaswolken, Gedränge auf den Zebrastreifen. Ganz Lhasa schien in eine Konsumwut geraten, und das Bewusstsein für das, was Tibet einst gewesen war, schien in unzeitgemäßer Sentimentalität erstickt. Alice und Aline wurden sehr schweigsam, wischten sich den Schweiß von der Stirn. Sie hatten sich Lhasa wohl anders vorgestellt. Tibeter und Chinesen trennte eine unsichtbare Wand, eine Art gläserne Hülle. Soldaten der Volksarmee, gelangweilt und anscheinend unbewaffnet, traten in kleinen Gruppen auf, als ob sie sich einzeln nicht sicher fühlten. Mir fielen auch die zahlreichen Staatssicherheitsspitzel auf, alle in schwarzen Lederjacken mit Knöpfen aus Goldimitat und einer Ledertasche am Handgelenk. Diese Spitzel waren überall. Hatte man einen erkannt, sah man auch alle anderen.
Frau Chang hatte lange Zöpfe, die wie schwarze Schlangen
den Rücken herunterbaumelten. Sie trug Jeans und weißgoldene Baskets an den Füßen. Ihre schönen Augen bettelten um Freundschaft, blickten aber flink auf alles um sie herum. Ihre Schäfchen bewachte sie gut. Sie wollte ihren Job nicht verlieren.
Inzwischen bog unsere frustrierte kleine Gruppe um ein paar Ecken. Die Straße stieg zwischen Mauern aus Naturstein zum Jokhang-Tempel hinauf. Frau Chang erzählte, dass die Roten Garden auch im Jokhang gewütet hatten, dass aber zahlreiche Kunstwerke und historisch wertvolle Reliquien gerettet werden konnten. Die Wände waren weiß getüncht, alle Banner neu, bunt und farbig. Auch das vergoldete Wahrzeichen, das »Rad der Lehre« mit den vierundzwanzig Speichen und den knienden Gazellen, blinkte im Sonnenlicht. Die Chinesen verstanden sich auf perfekte Nachbildungen. Wir traten in die große Vorhalle »Tsug-Lha-Khang«, und die Bilder der Zersetzung verschwanden im Dunkel, wie schlechte Träume. Hier schien alles unversehrt: die zornigen »Raksha«- ebenso wie die friedvollen
Weitere Kostenlose Bücher