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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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antwortete mit einer Gegenfrage: »Hattest du Felix eigentlich sehr gern?«
    In diesem Augenblick hatte ich ein Empfinden, wie man es bisweilen in Träumen hat, wenn man sich von einer Tür zur nächsten tastet und alle verschlossen sind. Bis eine dieser Türen endlich aufspringt und das, was wir dahinter finden, ein Geheimnis ist, das uns im Traum verborgen bleibt.
    Sonams Frage verlangte eine ehrliche Antwort. Ich gab sie ihr: »Offen gesagt, Amla, du hast uns keine Zeit gelassen, uns … besser kennenzulernen.«
    Ihr Gesicht zeigte plötzlich einen Anflug von Kummer.
    »Dann habe ich etwas zerstört?«
    Ich bewegte beschwichtigend die Hand.
    »Inzwischen haben wir die Sache überwunden. Felix hat eine Frau getroffen, die er vielleicht heiraten wird.«
    Sie nickte vor sich hin.
    »Leidest du deswegen?«
    »Ob ich leide?« Ich blickte sie erstaunt an. »Ich war gekränkt und wütend, das schon. Und gelitten habe ich auch, aber das ist vorbei. Was mich jetzt noch beschäftigt, ist die Frage, warum du das getan hast.«
    Sie erwiderte meinen Blick. Ihre Augen leuchteten sehr intensiv, ohne dass sich ihr Gesichtsausdruck verändert hätte. Ihre Stirn war hart. Ich wartete darauf, dass sie sprach, und hatte wieder Angst vor ihr. Gleichzeitig begriff ich, dass ich von ihren funkelnden Augen, von ihrer bockig wirkenden Stirn und ihrer Weigerung, etwas von sich preiszugeben, gefesselt war. Als sie endlich sprach, klang ihre Stimme so gleichmäßig, als ob sie einen Text aufsagte.
    »Er hat mich untersucht, erinnerst du dich? Beim Röntgen stellte er eine verkappte Tuberkulose fest. Ich muss mich irgendwo angesteckt haben.«
    Ich nickte.
    »Ja, das hat mir Felix gesagt.«

    »Und was hat er dir sonst noch gesagt?«
    Ich sprach einfach drauflos.
    »Dass du Narben auf dem Rücken hast. Das wusste ich nicht, Amla. Warum hast du sie mir nie gezeigt?«
    Sie reagierte nicht sofort. Ich konnte die Augen nicht von ihrem versteinerten Gesicht abwenden. Schließlich sagte sie, leise und starrköpfig: »Es war kein schöner Anblick für ein Kind.«
    Sie sollte sich nicht so anstellen. Es machte mich unruhig, ängstlich, hilflos.
    »Amla, ich bin kein Kind mehr. Und ich fühle mich in dieser Situation sehr unbehaglich.«
    Sie tupfte sich mit der Papierserviette die Lippen ab.
    »Willst du die Narben sehen?«
    Ich starrte sie an.
    »Jetzt?«
    Sie schob ihren Stuhl zurück.
    »Nicht hier.«
    Wir gingen die Treppe hinauf, in ihr Schlafzimmer. Ich war erstaunt, wie ruhig und sanftmütig sie plötzlich war. Ihre Schritte waren rasch, als ob sie nach dem einmal gefassten Entschluss keine Zeit verlieren wollte. Sie ging zunächst zum Fenster und schloss die Vorhänge. Dann machte sie eine Deckenlampe an, die ziemlich düsteres Licht spendete. Sie zog ihre Strickjacke aus, wickelte das Oberteil ihres tibetischen Kleides auf, streifte es über die Schultern und Taille. Darunter trug sie eine Bluse, die sie aufknöpfte. Eine alte Lederschnur mit einigen braunen Steinen lag um ihren Hals. Sie trug diese Schnur, so lange ich denken konnte. Ihre Haut hatte fast die gleiche Farbe wie die Steine. Schwer atmend schob sie ihren Unterrock von den etwas fleischigen Armen und stand im Büstenhalter vor mir. Für ein paar Sekunden hielten ihre Augen die meinen fest, dann wandte sie sich langsam um, und ich sah ihren Rücken.

    Obwohl das Licht nur schwach brannte, zeichneten sich die Narben sehr deutlich ab, weil die Schatten gleichzeitig jede Schwellung vertieften. Ich presste die Hand auf den Mund, unterdrückte einen Schluckauf. Der ganze Rücken war entstellt, dunkelrot verfärbt, die Haut war zusammengewachsen, wie es gerade kam, hatte Dellen und hässliche Wülste gebildet. Durch die Wunden unter dem linken Schulterblatt war eine Sehnenkontraktion enstanden, die ihre Muskeln seitwärts zog. Eigentlich hätte sie sich schief halten müssen. Das war aber nicht der Fall. Sie hielt sich übertrieben gerade, wie eine Frau, die in einem festen Korsett steckt; bloß dass ihr Korsett aus Muskeln bestand. Sie musste ihren Rücken jahrelang trainiert haben. Die Wirbelsäule war kaum verkrümmt. Ihre Muskeln aber waren so belastet, dass sie fast unbeweglich waren und die entstellenden Narben wie aufgemalt wirkten. Sie hinkte auch nicht, drehte nur die Hüften auswärts, um ihr Gleichgewicht zu halten. Dabei war ihr Gang nicht ungraziös, weil sie so leichte Knochen hatte. Sie hielt die Füße ausgestellt, wie man das bei klassischen Tänzerinnen beobachten kann.

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