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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Und in all diesen Jahren, dachte ich, reumütig und verbittert, ist mir nie etwas aufgefallen!
    Sie saß auf dem Bettrand und rührte sich nicht. Endlich schüttelte ich meine Lähmung ab und vermochte zu sprechen. Ich stellte die erste Frage, die mir in den Sinn kam.
    »Tut es noch weh?«
    Sie schaute hoch, weil ich vor ihr stand.
    »Nein, schon lange nicht mehr. Man braucht lebende Nerven, um Schmerzen zu verspüren, aber bei mir sind das Gewebe und die Nerven längst zerstört.«
    Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und wollte meine Hand auf ihre Schulter legen. Doch ich konnte meine Hand nicht ausstrecken. Stattdessen fragte ich: »Was hat man dir angetan?«
    Sie wandte ihre Augen, die jetzt viel Verständnis zeigten, mir zu.

    »Ich wurde ausgepeitscht, weil ich versucht hatte zu fliehen. Es gibt nicht viele, die das überlebt haben, aber ich habe es überlebt. Damals war ich sehr stolz auf diese Narben.«
    Ich traute meinen Ohren nicht.
    »Stolz? Aber das ist doch …«
    Sie zeigte ein kleines Lächeln, aufsässig, trotzig.
    »Wahnsinnig, willst du sagen? Gewiss. Ein echter Wahnsinn. Aber je schwächer wir waren, umso mehr mussten wir uns den Anschein geben, stark zu sein.«
    »Das hast du dir damals eingeredet?«
    »Wie ich damals den Mut nicht verlor, ist mir selbst rätselhaft. Aber ich wollte die Stärkere sein. Ich war sehr eigensinnig, darüber musst du dir im Klaren sein.«
    Ich hatte es noch heute mit einer zähen, hartnäckigen Frau zu tun, die mich dazu zwang, sie zu bewundern.
    »Daran hat sich nichts geändert …«
    »Eigensinn ist erblich«, erwiderte sie.
    Wir tauschten ein schwaches Lächeln. Plötzlich brach alles in mir zusammen. Die Tränen stürzten mir aus den Augen.
    »Ach, Amla! Es tut mir ja so leid!«
    »Dazu besteht kein Anlass. Aber solche Narben rufen Ekel hervor. Felix hat sich übergeben, als er meinen Rücken sah.«
    Ich hatte auf einmal das Gefühl, dass er mich betrogen hatte.
    »Das hat er mir nie gesagt.«
    Sie zerrte trotzig an ihrem langen Zopf.
    »Wenn ich daran denke, bekomme ich einen bitteren Geschmack im Mund. Er ist schnell mit den Nerven fertig. Und dabei ist er doch Arzt! Ich will dich später nicht unglücklich wissen.«
    Sie schaute mir direkt in die Augen; in diesem Moment entstand zwischen uns eine tiefere Verbindung. Merkwürdigerweise war die Situation für mich jetzt klarer. Obwohl es mich noch immer aus der Fassung brachte, gestand ich mir ein, dass
sie recht haben mochte. Aber natürlich hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen, als es ihr zu sagen.
    Ich hatte mich halbwegs wieder beruhigt, aber meine Nase lief.
    Sonam tastete nach ihrem Nachttisch, reichte mir ein Papiertaschentuch.
    »Putz dir die Nase!«
    Wir saßen nebeneinander auf dem Bett. Sonam begann sich mit langsamen Bewegungen wieder anzukleiden. Ich wischte mir die Augen trocken.
    »Wie alt warst du, als es geschah?«
    »Ungefähr fünfzehn.«
    »So jung!«
    »In einem Lager wird man schnell erwachsen.«
    »Warum erzählst du mir nicht, wie es war?«
    »Ich habe dir schon manches erzählt.«
    »Nur das Wesentliche. Keine Einzelheiten.«
    Ihr Blick wurde wieder verschlossen.
    »Vieles habe ich nicht mehr im Kopf.«
    »Ach, das sagst du nur so. Ich weiß, dass es nicht stimmt.«
    Sie zitterte plötzlich ein wenig. Das Zittern hatte nichts von einer tatsächlichen Bewegung, es glich eher einem schwachen elektrischen Strom, der über ihre Haut fuhr, sodass sie fröstelte. Sie schlüpfte in ihre Strickjacke, wobei sie die Arme etwas unbeholfen hob, bevor sie ihre »Pangden« - die gestreifte Schürze der verheirateten Tibeterinnen - wieder umband. Dann legte sie beide Hände in den Schoß, blickte im Zimmer umher, aber so, als ob sie die Gegenstände nicht wahrnahm. Ihr von der Seite beleuchtetes Gesicht schien mir schmaler und faltiger geworden, die Backenknochen zeichneten sich scharf unter der Haut ab.
    »Am Anfang war ich sehr zornig«, sagte sie. »Zorn ist gleichsam eine Verleugnung und ein Ausgangspunkt. Aber im Zorn erbauen wir uns selbst ein Gefängnis, und Gefängnisse habe
ich stets gehasst. Was unsere Weisen sagen, stimmt nämlich: Die Schmerzen verblassen mit der Zeit. Wir leben in einer Welt der Erscheinungen; alles wird Vergangenheit, noch in dem Augenblick, da es geschieht. Du hast noch rote Augen, das Taschentuch ist nass, aber deine Tränen sind schon Vergangenheit. Verstehst du, was ich sagen will? Wir können nur rückwärts schauen, nie vorwärts - das ist es ja.«
    Sie

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