Das Haus der Tibeterin
darüber hinweg wie auf Glatteis. Dann wieder Dunkelheit, der Geruch von Wacholderrauch, ranzigem Öl, Schafsfellen. Der Boden war speckig, weil jede Menge Leute sich hier niederwarfen, auf den Knien rutschten und beteten. Wir tasteten uns im Gedränge vorwärts, die Videokameras sahen zu, wie wir Stiege um Stiege emporkletterten, bis wir durch eine Tür traten und uns grelles Licht explosionsartig umfing. Wir standen auf dem Dach, unter dem blau funkelnden Himmel, blickten über die Stadt bis zum Horizont, wo die Schneeriesen im Halbkreis über den Wolken schwebten. Von unten her erklangen Hupen, Motorenlärm, richtungslose Musikfetzen. Sie stimmten nicht mit den Geräuschen von früher überein, die ich aus meinen Träumen kannte: vielstimmige Gebete, Glockengebimmel, das Krähen der Hähne, das ferne Schnauben angebundener Pferde. Jeder hat seine Traumkulisse, seine Sehnsuchtsziele. Was nützten mir meine? Sie waren hier und doch nicht hier. Ich lehnte mich vor, die Arme über die Mauer gelegt. Ich konnte mir alles zusammenreimen, was in der Fantasie und was außerhalb der Fantasie bestand. Die Gedanken bewegten sich frei in meinem Kopf, schlüpften hinein und
hinaus. Unablässig rieb der Höhenwind die Steine, schnurrte dabei wie eine Katze. Wenn der Wind die Steine nur lange genug rieb, würde der Palast zum Felsen werden, zum Berg. Damit hatte ich aber die Definition des Potala: Der Potala lebte, solange er funktionierte. Das war ein brutaler Gedanke, für mich als Tibeterin bedurfte es einigen Muts, ihn zu formulieren. Trotzdem: Um dieses Nicht-Funktionieren für alle Welt sichtbar zu machen, hatte die chinesische Regierung viel Geld investiert. Der Dalai-Lama würde nicht kommen, weil er sich weigerte, den Tod der Religion, den Tod der Gefühle, den Tod des Lebens zu unterstützen. Und was der Mönch gesagt hatte, war logisch, war klar, war einfach so: Jeder Tibeter musste sein Schatzkästchen im Herzen tragen.
Ein Schatten schob sich zwischen mich und meine Gedanken. Rico stand neben mir, die Mütze über die Stirn gezogen und Sonnencreme auf den Lippen.
»Der Potala ist eine Wucht«, sagte er. »Alles andere kommt mir verdächtig vor.«
Ich grinste ihn an.
»Ach, dir auch?«
Frau Chang winkte bereits. Weiter, weiter! Es gab ja noch vieles zu sehen! Auf dem polierten Holzfußboden im Audienzsaal des Dalai-Lama kauerten Pilger, hatten sich verneigt, die Hände vor dem Gesicht gefaltet. Ihre Gesten, ihre Haltung waren vollkommene Gesten der Verehrung. Das Poltern der Schritte ringsum, das Stimmengewirr schienen sie zu überhören. Ihre Wahrnehmung war nur auf die innere Schau gerichtet, und doch gab es nur den leeren Thron, mit dunkelbrauner und gelber Seide bezogen, die bereits zerschlissen war. Auf dem Thron lag ein safrangelbes, zusammengefaltetes Gewand. Egal, welche Hände es gefaltet hatten - an diesem Ort waren die Schleier zwischen den Welten nur dünn. Die Gläubigen trugen ihr Schatzkästchen bei sich, nahmen es hervor wie einen Edelstein. Man konnte sich dabei etwas ganz Konkretes
vorstellen. Ich hatte kein ungutes Gefühl mehr in der Magengrube. China als Weltmacht war eine rein intellektuelle Konstruktion. Wer das zu ertragen hatte, brauchte Visionen. Der Glaube an eine Transzendenz gab diesen Menschen ihre geistige Hygiene, bevor die Rationalität jede Zelle ihres Körpers vergiftete. Der Glaube war die letzte Chance der Tibeter, vielleicht sogar die einzige, nicht als Neurotiker zu verkommen.
Inzwischen machte uns Frau Chang auf das mit Seide verhängte Fenster aufmerksam, von dem aus der Dalai-Lama einst den Neujahrszeremonien beigewohnt hatte. Dann reihten wir uns wieder in die Schlange der Wartenden ein, wanderten durch kleinere und größere Heiligtümer. Auf den bemalten Wänden, geschwärzt von dem Schweiß unzähliger streichelnder Hände, war ein verwirrender Kosmos dargestellt, den Irrgärten menschlicher Zellen im Gehirn entsprechend. Dämonen und Heilige erzählten die gleiche Geschichte: Der Mensch, noch eine Kreatur im Werden, war dem Bösen ausgeliefert. Weil er aber einen göttlichen Abglanz in der Seele trug, vermochte er das Gute zu erkennen und sich mit jeder Wiedergeburt der Erleuchtung zu nähern.
»Vor ein paar Jahren brach hier ein Feuer aus«, sagte Frau Chang. »Eine Anzahl Thankas, Rollbilder, wurden zerstört. Zum Glück aber konnten die alten Bücher gerettet werden. Es sind sehr wertvolle Schriften.«
Schon nahm ein junger Mönch ein Buch aus dem Wandregal und
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