Das Haus der Tibeterin
öffnete sich. Eine Frau stand vor mir, groß, überschlank, in Hosen und Pullover. Hinter ihr befand sich ein Fenster, sodass mein Gesicht voll beleuchtet war, während das ihre im Schatten lag.
»Tante Lhamo?«, fragte ich.
Sie nickte.
»Du bist Dolkar, nicht wahr? Ich bekam erst gestern deinen Brief.«
Ich trat hinter ihr in den Raum. Sie schloss die Tür, indem sie den herunterhängenden Haken in seine Metallhalterung drehte. Als sie sich nach mir umwandte, sah ich das Gesicht einer älteren Frau, das noch Spuren ihrer einstigen Schönheit zeigte. Die hohe Stirn war gebräunt, um Mund und Nase hatten sich tiefe Falten gebildet. Die Konturen waren noch da, die Substanz war zerstört. Obendrein trug sie eine hässliche Brille. Ihre Lippen waren zusammengekniffen; es war, als ob sie sich das Lächeln abgewöhnt hatte.
»Warum bist du gekommen?«, fragte sie.
»Ich wollte dich sehen.«
»Findest du das richtig?«
Sie sprach ein altmodisches, unbeholfenes Tibetisch. Ich fragte mich, in welcher Sprache sie wohl lebte und dachte.
»Wieso nicht?«, fragte ich.
»Setz dich!«
Sie deutete auf den »Khang«, die übliche Sofabank, auf der sich Decken und Kissen stapelten. Darunter waren Pappkartons und Koffer verstaut. Lhamo schien die Sitzbank auch als Bett zu benutzen. Sie hatte offenbar nur ein Zimmer zum Wohnen, Essen und Schlafen. In der Mitte standen ein runder Tisch mit Spitzendeckchen und vier Stühle. Auf selbstgezimmerten Regalen reihten sich bunt gemusterte Thermoskannen, Kochtöpfe und Schüsseln in verschiedener Größe. Eine Elektroplatte diente zum Kochen; in dem primitiven Waschbecken stapelte sich Geschirr. Lhamo verfügte auch über einen Heizring, ein Privileg in Lhasa, wo chronischer Strommangel herrschte. Dafür war der Fernseher ein neues Modell mit flachem Bildschirm. Hinter einen Vorhang baumelten verschiedene Kleidungsstücke an Drahtbügeln. Die Toilette war offenbar draußen, auf dem Flur oder im Hof. Immerhin war ein Ofen da, ein Blechmonstrum mit mehreren Schubladen und Gittern. Daneben stand ein Sack voller Kohlebriketts. Auch die Kohle war ein Privileg; die meisten Tibeter heizten mit Yakdung.
»Tee?«, fragte Lhamo.
Sie griff nach einer Thermoskanne, goss Tee in eine Tasse und stellte sie vor mir auf den Tisch. Der chinesische Grüntee war heiß und dampfte. Ich nahm einen kleinen Schluck. Lhamo setzte sich auf eine Seite der Bank, so weit weg von mir, wie es ging. Abstand. Keine Berührung. Ich sah ihr Profil, die ungepflegte Haut, die gerunzelten Augenbrauen. Ihr blauer Pullover war fusselig, die Polyesterhose zerbeult. Sie trug graue Wollsocken, ihre Füße steckten in Männerpantoffeln.
»Was treibst du so im Leben?«, fragte sie.
»Ich bin Architektin.«
Sie nickte. Ich konnte nicht ausmachen, ob es sie interessierte oder nicht.
»Und wozu bist du in Lhasa?«
»Ich wollte mal kommen. Ich stamme ja schließlich von hier.«
Ihr Gesicht zeigte nichts als Gleichgültigkeit.
»Lhasa ist nicht mehr wie früher. Vieles wurde zerstört. Das Viertel war ganz neu, als wir hier einzogen.«
Ich hatte das Geplänkel satt.
»Tante Lhamo, ich weiß nichts von dir. Ich würde gern etwas über dich erfahren.«
Sie antwortete spröde.
»Da gibt es nicht viel Interessantes zu erzählen. Ich war verheiratet und hatte eine Fehlgeburt. Danach konnte ich keine Kinder mehr haben. Und jetzt bin ich Witwe und lebe allein.«
Sie stand auf, nahm ein Foto, das eingerahmt auf einer Kommode stand, und reichte es mir.
»Chi«, sagte sie. »So hieß mein Mann. Huang Chi. Er ist seit sechs Jahren tot.«
Auf dem Foto war ein schlanker Mann in Uniform zu sehen. Er trug ein Offiziersabzeichen und sah gut aus, obwohl er sich übertrieben gerade hielt. Seine Haltung war linkisch, und eine Schulter hing tiefer als die andere. Ich gab Lhamo das Bild zurück.
»Du hast ihn im Arbeitslager kennengelernt?«
Hinter ihren Brillengläsern kniff sie die Lider etwas zusammen, um den Blick zu schärfen.
»Ja. Wer hat dir das gesagt?«
»Kelsang. Er ist übrigens Mönch geworden.«
Sie erwiderte kalt: »Das wurde mir mitgeteilt.«
Ich hatte damit gerechnet, dass sie abweisend sein würde,
und sagte: »Ich weiß nicht, ob ich dir Fragen stellen soll oder ob du welche hast.«
»Aber ich doch auch nicht!«
Sie hob lebhaft beide Hände. Die Gebärde machte sie auf einmal jünger. Ich lächelte ihr aufmunternd zu.
»Los, fang an!«
Sie ließ die Hände wieder sinken.
»Sonam, wie geht es ihr?«
»Ach,
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