Das Haus der Tibeterin
kristallklarer Härte. Wir fuhren über holpriges Pflaster bis zum Parkplatz für Reisebusse, wo alle ausstiegen, fasziniert nach oben blickten, die Kameras bereitmachten. Alles war sauber, die Straßenkehrer mit Mundschutz waren schon bei der Arbeit, die rote Staatsfahne wehte fröhlich im Wind. Die Burg mit ihren verschachtelten Dächern ragte weit empor, einer Riesenwelle gleich, versteinert und von der Schwerkraft getragen. Lange Schlangen von Besuchern stapften an der pseudotraditionellen Mauer, an dem kitschigen Stupa vorbei. Sie kamen aus sämtlichen Hotels, alle schön brav in Gruppen, bewegten sich wie Ameisen die gewundenen Wege hinauf. Auch wir begannen den Aufstieg und merkten bald, dass Frau Chang nicht unbedingt gelogen hatte. Der Weg war steil, in der dünnen Luft raste das Herz, und die Beine wurden schwer. Wer nach unten blickte, sah die blauen Souvenirläden in akkuraten Reihen stehen. Man blickte besser nach oben. Über den frisch getünchten Weißen Palast erhob sich, noch gewaltiger, der Rote Palast in der Farbe von Zinnober. Über den Backsteinmauern wallten Vorhänge aus Yakhaar sieben Stockwerke tief.
»In dem oberen Teil haben wir die Wohnräume des Dalai-Lama und seiner klösterlichen Gemeinschaft sowie eine große Anzahl von Tempeln und Heiligtümern«, erklärte Frau Chang, die Einzige hier, die nicht atemlos war. »Die Stadtverwaltung will, dass der Potala seine sakrale Funktion behält.«
Ach, wie entgegenkommend, dachte ich und schleppte mich die hohen Treppenstufen empor. Die Steine waren an vielen Stellen zerbröckelt, mit spärlichem Gras und Unkraut bewachsen. Immer wieder blieben wir stehen, kämpften gegen die
Atemnot an. Am Ende der Treppe, neben einem Portal, drehte sich eine große Gebetsmühle, geölt mit Butter und vollgestopft mit Opfergaben, schwerfällig um die eigene Achse. Alle Vorbeigehenden gaben der Gebetsmühle einen kleinen Schwung, sodass sie sich schneller drehte. Ein paar Mönche in kastanienbraunen Roben standen oder saßen auf den Stufen. Ihre großen Kopfbedeckungen der Gelubka-Sekte, gelben Hahnenkämmen ähnlich, trugen sie lässig über die Schulter gehängt. Sie grüßten mit breitem Willkommenslächeln - Statisten? Andere Mönche, in tintenblauen Arbeitskitteln, fassten argwöhnisch jeden Besucher ins Auge. Wir gingen durch einen Innenhof, wobei wir erfuhren, dass die Festung aus neunhundertneunundneunzig Räumen bestand, großen und kleinen, über ein Gewirr aus Holztreppen zu erreichen. Natürlich war nur ein kleiner Teil dieser Räume zur Besichtigung freigegeben.
Wir betrachteten das Gebäude; vor uns im Dämmerlicht lagen drei Treppenabschnitte. Die mittlere Treppe war glänzend poliert und mit einem gelben Stoffband abgesperrt.
»Sie ist nur für den Dalai-Lama bestimmt«, sagte Frau Chang.
»Der vermutlich nie kommen wird«, raunte mir Rico zu.
Chinesische Kaderleute, Männer und Frauen, schlenderten umher; sie trugen einheitliche beige Windjacken mit roten Ansteckknöpfen an der Brusttasche. Die Mönche strahlten auch sie an. Die Chinesen verzogen keine Miene. Einige hielten ihr Handy am Ohr, stolzierten raumgreifend umher, führten gestikulierend Gespräche. Wir indessen betrachteten die Wandfresken, auf Distanz gehalten hinter Holzgatter und Stoffbändern. Alle Säulen waren mit weißen Tüchern umwickelt, um die alten Schnitzereien zu schützen. Scheußliche Panda-Bärchen aus Metall standen als Müllschlucker herum. Und Überwachungskameras überall. Auf den zu grell restaurierten Fresken war der Bau des Potala in farbenprächtiger Bilderfolge dargestellt. Wir sahen die ersten Könige von Tibet, die vom
Himmel kamen. Sie hingen an einer Schnur, die Heilige und Menschen von Herz zu Herz verband wie bei einer Bluttransfusion. Im Mittelpunkt war der Großkönig Songsen Gampo abgebildet, der vor tausenddreihundert Jahren die ursprüngliche Burg auf dem roten Berg Marpori errichtet hatte.
»Aber der eigentliche Bau«, erklärte Frau Chang, »ist dem fünften Dalai-Lama, in Tibet ›der Große Fünfte‹ genannt, zu verdanken. Die Arbeiten begannen 1645 und dauerten vierzig Jahre. Der Große Fünfte starb, ehe das Werk vollendet war. Der ihm nachfolgende Regent wusste, dass die Arbeiter die Strapazen für niemand anderen auf sich nehmen würden. Und so wurde sein Tod fünfzehn Jahre lang geheim gehalten.«
Nun kamen wir in einen Hof, von der Sonne blendend erleuchtet. Die Steine bildeten eine einzige polierte Fläche. Wir bewegten uns
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