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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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entfaltete behutsam den langen, schmalen Stoffeinband. Die faserigen Innenseiten waren zwischen zwei aufwändig verzierte Holzdeckel geklemmt. Der Mönch zeigte zwar das Buch, gab es aber nicht aus der Hand. Sein Gesicht war ausdruckslos.
    »Vor allem die Werke des fünften Dalai-Lama«, sagte Frau Chang, »geben uns Einsicht in die damalige Glaubenswelt.«
    Ich wusste, dass wir nur einen Bruchteil der Reichtümer des Potala gesehen hatten. Wo waren die kostbaren Schriftrollen,
die uralten Rüstungen, die goldenen Statuen, mit Edelsteinen aller Größen und Formen geschmückt, die illuminierten Manuskripte, mit einer Tinte geschrieben, die aus Gold und Silber gewonnen wurde? Wo waren die bestickten Brokate, die hauchzarten Porzellane, himmelblau, feuerrot, pfirsichrosa? Die Gefäße aus Jade, Amethyst, Bergkristall, die anmutigen Emaille-Malereien? In China? Oder irgendwo in einem unbekannten Keller in Kisten verborgen?
    Nachdenklich folgte ich Frau Chang, die vor einem gewaltigen Türgitter stehen blieb, mit einem uralten Schloss und einem Türklopfer in Gestalt eines Schneelöwen versehen. Dahinter befand sich ein Pagodenschrein, der viele Meter in die Höhe ragte.
    »Das ist das Grabmal des dreizehnten Dalai Lama. Das war der Vorgänger des heutigen Oberhaupts des tibetischen Glaubens«, sagte Frau Chang und sah flüchtig auf die Uhr, weil hinter uns bereits die nächste Gruppe wartete. Vor dem Grabmal standen Gefäße aus Porzellan, Krüge in jeder Größe und schwere Butterlampen aus Messing. Aber die Dochte waren verkohlt, das Wasser in den Opferschalen ausgetrocknet. Zerschlissene Wandbehänge hingen leblos herab. Selbst der Duft der Räucherstäbchen war verflogen. Hier wehte kein Geist, kein Atem mehr. Der Grabschrein roch nur noch muffig und verlassen. Frau Chang aber klatschte fröhlich in die Hände.
    »Zeit zum Mittagessen! Die Besichtigung war anstrengend, nicht wahr? Wir sind jetzt alle sehr hungrig!«

FÜNFUNDVIERZIGSTES KAPITEL
    D er Bus hielt in einem Viertel am Stadtrand, in dem alle Straßen schnurgerade durch Wohnsiedlungen zogen, die man früher für chinesische Kaderleute gebaut hatte. Zwanzig Jahre später waren die Mietkasernen verkommen. Fenster waren eingeschlagen, der Putz bröckelte ab. Auf den Balkonstümpfen voller Gerümpel reihten sich Satellitenschirme wie seltsame Skulpturen, ein Schirm unter dem anderen. Alle Balkone waren mit runden Löchern versehen, damit die Bewohner ihren Abfall loswerden konnten. Straßenfeger entsorgten dann den Müll. Das Abzugsrohr für den Ofen führte durch ein Loch in den Scheiben ins Freie. Der Rauch vieler Winter hatte die Fassaden mit einer Art grauem Ausschlag bedeckt. Vor einem dieser Häuser blieb ich stehen, blickte die fünf Stockwerke empor. Ob Lhamo meinen Brief erhalten hatte? Vielleicht war es ihr peinlich, dass ich sie besuchen wollte? Na, egal. Ich stieß die Haustür auf. Die dumpfe Stimmung des Wohnblocks drang, zusammen mit dem säuerlichen Geruch chinesischer Küche, auf mich ein. Ich zwängte mich durch die Fahrräder, die den schmalen Eingangsflur verstopften. Aus den Briefkästen schauten Prospekte und Zeitungen heraus, irgendwelche Mitteilungen in chinesischer Schrift waren an die Wand geheftet. Türklingeln gab es nicht: Man musste klopfen. Auch die Namen waren in chinesischer Schrift gehalten. Von Sonam hatte ich erfahren, dass Lhamo im dritten Stock wohnte. Sie selbst war nie bei Lhamo gewesen, aber eine Freundin hatte sie mal besucht; daher wusste Sonam das. Die rechte Tür, ganz hinten,
hatte sie gesagt. Ich stieg die enge, ungepflegte Steintreppe empor. Die verschmutzte Neonröhre an der Decke spendete nur spärliches Licht. Ich spürte plötzlich einen Fluchtimpuls, biss erbost die Zähne zusammen. Kopf hoch, Dolkar! Schön wird es nicht sein, aber sei gefälligst kein Feigling!
    In jedem Stock gab es vier Wohnungen; man hörte Kinder spielen und schreien, der Fernseher lief, ein Säugling wimmerte, die üblichen Geräusche eines Mehrfamilienhauses ohne Privatsphäre. Im zweiten Stock wurde gekocht, ein Reiskocher brodelte, Gemüse wurde gehackt. Man hörte wirklich alles. Zigarettenqualm mischte sich in den Bratfettgeruch. Vor jeder Tür hing der gesteppte Vorhang, mit dem sich die Bewohner vor Luftzügen schützten. Lhamos Vorhang war blau, mit einem kitschigen Blumenmuster. Ich schlug den Vorhang zur Seite, klopfte. Mir schien, dass mein Atem ein allzu lautes Geräusch machte. Dann vernahm ich ein Schlurfen, die Tür

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