Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
Vom Netzwerk:
wahllos herausgegriffener Teil des allgemeinen Unglücks. Die Tragödie selbst lag natürlich auf einem ganz anderen Gebiet, auf dem Gebiet der Politik nämlich, die nie irgendwelche Gefühle für die betroffenen Menschen zugelassen hat. Es spielt nie eine Rolle, ob ihr Leben - oder ihr Seelenleben - zerstört wird. Was ich hier suchte, war das Zurückerinnern an Ereignisse, die mich mit einschlossen, obschon es mich damals überhaupt noch nicht gegeben hatte. Aber ich konnte nicht den guten Vorsatz fassen: Ab morgen begreife ich alles! Die Vergangenheit ist ohne Gnade. »Es war einmal« - so beginnen die Märchen. Diese Worte schaffen Ausgangspunkte, vermitteln einen emotionalen Kontakt zu dem, was erzählt wird. In Lhasa konnte ich mich nur als Fremdkörper bewegen. Das Rad der Zeit ließ sich wie eine Gebetsmühle drehen, immer
nur vorwärts, niemals zurück. Was hatte der alte Mönch gesagt? Dass man es konnte? Ich fand den Gedanken bemerkenswert, aber auch geradezu absurd.
    Eine Folge dieser Überlegungen war das Gefühl einer großen Verlorenheit. Aus einer Fülle widersprüchlicher Gefühle kristallisierte sich zunehmend die Gewissheit heraus, dass ich Lhasa nicht eigentlich hassen konnte, aber hier auch nichts zu suchen hatte. Die Entfremdung war zu groß.
    Ich sah auf die Uhr: Zeit zum Essen. Ich zog ein frisches T-Shirt an, wickelte einen Glitzerschal um den Hals und ging in den Speisesaal, wo sich die Leute meiner Gruppe schon eingefunden hatten. Frau Chang, eine Videokamera in der Hand, war eifrig dabei, uns zu filmen. Sie schien eindeutig froh, mich zu sehen.
    »Nun, haben Sie Ihre Verwandte treffen können?«
    »Nein, es war zu spät. Aber die Adresse stimmt. Ich werde sie morgen besuchen.«
    Frau Changs Lächeln gefror.
    »Aber morgen besichtigen wir den Potala! Das haben Sie doch wohl nicht vergessen?«
    Ich versicherte ihr liebenswürdig, dass ich Tag und Nacht nur an das eine, den Potala nämlich, dachte.
    »Der Bus kommt um acht«, sagte Frau Chang in die Runde.
    Daniel, einer der Studenten, sagte, dass er lieber zu Fuß gehen wollte. Er würde sich gern noch die Stadt ansehen.
    »O nein, es ist viel besser, wir fahren!«, rief Frau Chang. »Aber keine Sorge. Wir werden uns noch die Füße wundlaufen!«
    Mit anderen Worten, China entschied, was die Touristen sehen durften und was nicht. Ich ärgerte mich, doch die anderen lachten, und die Kamera glitt über ihre fröhlichen Gesichter. Das Essen wurde aufgetragen. Die Gerichte waren reichlich und gut, das Fleisch schmackhaft. Zu fett, meinte Aline, die in allen Buddhisten Vegetarier sah. Ich erklärte ihr, dass
das raue tibetische Klima es erforderte, den Organismus mit Fleisch und Fett zu versorgen.
    Claudia, die mit Daniel in einer WG lebte, hatte eine Prüfungsarbeit über Tibet verfasst.
    »Stimmt es«, fragte sie mich, »dass frisches Fleisch zuerst ein paar Tage vergraben wurde, bevor man es aß?«
    Sie schien erfreut, als ich ihre Worte bestätigte.
    »Doch, Tibeter mögen Fleisch, das schön weich ist und würzig schmeckt.«
    Aline verzog ein wenig das Gesicht.
    »Aber die Pilze sind gut!«
    Frau Chang lächelte sie an.
    »Shiitake-Pilze kommen aus China.«
    Danach das Unterhaltungsprogramm: Hübsche Mädchen und Burschen in farbenfrohen Trachten tanzten und sangen, winkten mit bunten Schärpen. Die Klänge waren zündend oder sehnsuchtsvoll, dazu gemacht, sich unter dem Sternenhimmel zu entfalten, das Echo von Berg zu Berg zurückzuwerfen. Musik und Tänze aus einer verlorenen Welt. Ich wollte mich nicht ködern lassen. Die zurechtgemachten Gesichter erschienen mir krampfhaft fröhlich, obwohl ich für kurze Momente den Frohsinn, die Zärtlichkeit zu spüren glaubte, die aus den Liedern strömte, aus den beschwingten Bewegungen.
    Der nette chinesische Kellner in blauer Tschuba servierte Ingwereis, brennend scharf und zugleich süß, mit Aprikosenkompott.
    »Die Aprikosen führen wir aus Sichuan ein«, erklärte Frau Chang. »Hier in Lhasa gedeiht Obst nur in Treibhäusern. Im Sommer gibt es sogar Erdbeeren.«
    Ich machte einen Fehler, indem ich einwarf, dass in Lhasa früher durchaus Obstbäume wuchsen und recht schmackhafte Früchte trugen.
    »Aber die Früchte waren nur für die herrschende Klasse bestimmt«,
sagte Frau Chang. Ich blieb ihr die Antwort schuldig, aß gelangweilt mein Eis. Im Argumentieren war sie zäher als ich.
     
    Am Morgen also der Potala. Der Tag war klar, der Himmel ein gleißender Türkis, blau und von

Weitere Kostenlose Bücher