Das Haus der Tibeterin
eigentlich recht gut. Sie ist auch Witwe.«
»Ja, das schrieb sie mir.«
Jetzt war ich doch etwas erstaunt.
»Amla sagte, sie hätte kaum noch Kontakt zu dir.«
Lhamo nickte gleichmütig.
»Das stimmt. Sie schrieb mir selten. Und, um ganz ehrlich zu sein, machten mir ihre Briefe keine Freude.«
»Warum nicht?«
Lhamo schraubte den Deckel der Thermoskanne auf, nahm eine Tasse für sich und goss Tee ein.
»Weil es nicht gut für uns war, dass ich Post aus dem Ausland bekam. Chi arbeitete im Justizministerium, musst du wissen.«
»Was hat das mit unserer Familie zu tun?«
»Viel« Lhamos Stimme klang bitter. »Chi bekleidete einen hohen Posten. Leitungsebene. Er wurde im Dienstwagen abgeholt und nach Hause gefahren. Sonam hatte bereits im Lager vieles getan, das uns schaden konnte. Chi lebte mit dem Gedanken: bloß keinen Ärger mehr! Er musste sich immer wieder rechtfertigen.«
Sie sprach kalt und systematisch, den Blick unentwegt auf ihre Hände gerichtet.
»Es war schlecht, dass Sonam sich so wenig um andere Menschen scherte. Wir alle versuchten uns anzupassen. Sonam dachte nur an sich. Was ich eigentlich sagen will … es nützte keinem von uns, wenn sie wieder eingefangen und bestraft wurde.
Ich habe sie dann gepflegt, und sie erholte sich. Das war, bevor Kelsang plötzlich verschwand. Die Kameraden erzählten, dass sie ihr Lager im Nebel aufschlagen mussten. Kelsang hatte irgendwelche Beschwerden und ging sich ständig entleeren. Und plötzlich kam er nicht mehr zurück. Bei Tageslicht suchten ihn die Kameraden vergeblich. Sie meinten, dass er wohl verunglückt sei. In Wirklichkeit war er geflohen. Aber das erfuhren wir erst später.«
»Und Sonam?«
»Als es ihr besser ging und man sie wieder zur Arbeit schickte, lief sie zum dritten Mal davon. Bisher hatte man viel Geduld mit ihr gehabt, aber das war zu viel. Sie hatte keine Gnade mehr zu erwarten. Den Soldaten wurde befohlen, sie zu finden und auf der Stelle zu erschießen. Aber diesmal entkam sie.«
»Weil Kelsang nicht mehr da war.«
Lhamo zog eine Art Grimasse.
»Sonam war eben sehr widerspenstig.«
»Und du warst es nicht.«
Sie fuhr leicht zusammen. Ich machte mir sofort Vorwürfe und versuchte die Schärfe meiner Bemerkung abzumildern: »Ich wollte dich nicht verletzen.«
»Du verletzt mich nicht.«
Sie fuhr sich mit dem Finger unter die Nase; ich merkte, dass sie erkältet war.
»Und dann?«, fragte ich.
Sie schniefte laut, wie es die Chinesen tun.
»Danach war ich jahrelang ohne Nachricht von ihr, bis ich erfuhr, dass sie tatsächlich Indien erreicht hatte. Sie hatte einen Khampa getroffen, du weißt doch, einer dieser Nomaden …«
Ich starrte sie an.
»Alo?«
»Ja, so hieß er. Ein Terrorist. Mein Großvater hatte ihn gepflegt,
als Alo noch ein Kind war. Es gibt eben merkwürdige Zufälle; da kann man nichts machen.«
»Nein. Aber woher kennst du die Geschichte?«
Sie zog gleichmütig die Schultern hoch.
»Woher? Chi war Kommissar. Solche Dinge in Erfahrung zu bringen gehörte zu seinem Beruf. Jedenfalls war es dieser Khampa, der Sonam nach Indien brachte. In einem Auffanglager sah sie dann Kelsang wieder.«
»Hasste sie ihn nicht, nach alldem, was vorgefallen war?«
»Ob sie ihn hasste? Wie soll ich das wissen? Sie hat mir nie etwas darüber geschrieben. Ich weiß nur, dass beide vom Roten Kreuz betreut wurden und später in die Schweiz kamen. Inzwischen wurde Chi nach Lhasa versetzt. Weil wir verheiratet waren, durfte ich das Lager mit ihm verlassen. Wir bekamen diese Wohnung, und ich gab wieder Chinesischunterricht.«
»Immer noch?«
»Heute habe ich mir freigenommen.«
»Meinetwegen?«
Sie wich der Bemerkung aus.
»Ich habe eine Witwenrente, aber ich komme schlecht über die Runden. Das Leben wird immer teurer.«
»Hast du dich mit Chi eigentlich verstanden?«
Sie schluckte. Die direkte Frage traf sie unvorbereitet.
»Du musst nicht glauben, dass ich unglücklich war. Wir teilten die gleichen Ideen und lebten in guter Partnerschaft.«
»Und was wurde aus Alo?«
Sie sah mich an, als verdächtigte sie mich irgendeiner bösen Absicht.
»Wahrscheinlich wurde er umgebracht. Aber ich hörte noch von ihm. Er hatte nämlich eine Tochter.«
Mein Atem beschleunigte sich.
»Eine Tochter? Wo ist sie jetzt?«
»Sie war eine Terroristin, wie ihr Vater. Und wild wie eine
Füchsin. Das lag diesen Leuten einfach im Blut. Sie wurde verhaftet. Das war in der Zeit, als die ersten Unruhen aufkamen. Die Mönche wurden immer
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