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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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geliebt haben musste. Mein Vater war ihr ja
erst viel später begegnet. Ich wagte den Sprung ins kalte Wasser.
    »Wenn ich etwas über Kanam in Erfahrung bringe, erzählst du mir dann, was du auf der Flucht erlebt hast?«
    Sie versteifte sich augenblicklich.
    »Was willst du noch mehr wissen?«
    »Nur ein paar Dinge«, sagte ich. »Siehst du, ich werde das Gefühl nicht los, dass da etwas gewesen ist … etwas sehr Wichtiges, von dem ich keine Ahnung habe.«
    Die dunklen Augen blickten starr, ihr Gesicht wurde braun und leer wie Gestein. Die plötzliche Ähnlichkeit mit Lhamo raubte mir fast den Atem. Auch der schneidende Ton ihrer Stimme war da - unverkennbar derselbe.
    »Ich werde gar nichts erzählen. Es ändert nichts. Es ist eine Sache zwischen Alo und mir.«

ACHTUNDVIERZIGSTES KAPITEL
    G eduld gehörte zu den Dingen, die ich wohl nie lernen würde. Ich versuchte, jemanden ohne Bezug zu all dem zu finden, was mich umtrieb, war aber nicht dazu in der Lage und fühlte mich ungeheuer nervös. Ich wusste es im Grunde: Ich war in Tibet meine Spannung nicht losgeworden, kein Problem war gedanklich bereinigt worden. Immerhin hatte ich Einsichten gewonnen, die neu waren, aus Erinnerungen, Träumen und Stimmen geboren. Ich irrte in einem Labyrinth von Emotionen herum, die mir das Leben schwermachten. Die Kollegen wollten natürlich wissen, was ich erlebt hatte und wie ich als Ex-Einheimische Tibet empfunden hatte. Ich kam sozusagen in spirituelle Gewänder gekleidet zurück, sollte alle Negativität vergessen und die heimatliche Erde geküsst haben. Ich konnte wenig erzählen. Die Fäden, von denen ich umsponnen war, das Gewebe aus tausend Wurzeln, Heimat, Familie, Unglücken und Tragödien, wären zu persönlich gewesen, zu intim. Ein metaphorisches Lamento, das keinen etwas anging und das womöglich auch niemand hören wollte. Ich hätte natürlich sagen können: Tut mir leid, meine Heimat ist nicht mehr Tibet, meine Heimat ist irgendwo in den Wolken, und wäre dabei von der Wahrheit gar nicht so weit entfernt gewesen. Aber wozu? Eine wie ich, die zwischen den Welten stand, konnte ohne Skrupel in beiden Welten leben und ihre Mitmenschen mit Seelenzuständen verschonen. Stattdessen erzählte ich von Häusern. Ja, von Häusern ließ sich viel erzählen. Dabei saß ich in der Kantine neben Sasha und Katia, einer
anderen Kollegin, und futterte Salat. Nach all dem Gebratenen, Geschmorten und Gekochten in Tibet brauchte ich das jetzt. Und ich war nicht mehr in Stimmung für Euphemismen, die ich wie alle anderen auch bei Frau Chang bis zur Unerträglichkeit von mir gegeben hatte.
    »Was die Chinesen in Tibet bauen? Nur Scheiße, und ich meine es wörtlich. Plattenbauten, billig und eilig aus dem Boden gestampft. Kommt ein Erdbeben, kracht ein Stockwerk auf das andere, alle Häuser brechen auseinander. Fertig!«
    »Und wie war das früher?«, wollte Katia wissen.
    »Die Häuser waren aus Lehm, Steinquadern und Holz. Sie schaukelten, wenn die Erde bebte, dass einem dabei übel wurde, alles klirrte und rasselte, die Wände bekamen Risse, aber die Balken brachen nicht und die Häuser standen fest.«
    »Ja«, meinte Sasha, der den Mund voller Salatblätter hatte, »Holz ist ein elastisches Material.«
    »Exakt. Solche Häuser waren Jahrhunderte alt und immer im Besitz der gleichen Familie. Und jede Generation erlebte Erdbeben. Die Himalaya-Kette ist ein junges Gebirge und ständig am Rumoren. Dann kamen die Han-Chinesen mit fröhlicher Akkordeonmusik, richteten Gewehre auf die Bewohner und befahlen: ›Alle Balken raus, los!‹ Die Leute mussten gehorchen, und die Häuser stürzten ein.«
    Katia rollte die Augen.
    »Hierzulande würde man sie unter Denkmalschutz stellen.«
    »Klar doch. Aber in Tibet stehen jetzt Plattenbauten, die in zehn Jahren verfault sein werden.«
    »Aber wozu dieser Unsinn?«, fragte Sasha.
    »Kein Unsinn, sondern ein gutes Geschäft. Die Baufirmen müssen doch Arbeit haben.«
    Ich trank einen Schluck Mineralwasser. Ich trug einen gewaltigen Groll in mir, und es tat mir wohl, ihn loszuwerden. Aber ich war nicht ganz bei der Sache.
    Da war ein Unbekannter, der irgendwo in der Schweiz oder
anderswo lebte, den ich aber entschlossen war zu finden. Ein Unbekannter, der zu mir gehörte, zu meiner Geschichte. Er war eine Gestalt, die sich wie in einer Theateraufführung im Dunkel verbarg und ihr Gesicht erst dann zeigte, wenn sie der Regisseur auf die Bühne winkte. Aber leider führte ich nicht die Regie; wie

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