Das Haus der Tibeterin
bekam ich also die Gestalt auf die Bühne? Man denkt, und das scheint logisch, nichts von der Vergangenheit könnte wiederhergestellt oder geändert werden. Blödsinn so was! Der alte Mönch hatte mir gezeigt, dass die Wunschkraft siegt. Wir kriegen das schon hin, wir müssen nur ganz fest daran glauben. Ein rationaler Geist würde mir jetzt sagen: »Dolkar, du bist verrückt!« Na, meinetwegen. Für mich gab es nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen.
Ich machte mich also an die Arbeit, suchte im Computer nach Namen, nach Adressen. Von dem Unbekannten wusste ich nichts, nur sein ungefähres Alter und seinen Vornamen: Kanam. Das war auf jeden Fall zu wenig. Ich rief bei verschiedenen tibetischen Organisationen an, auch bei dem sehr aktiven Frauenverein. Nichts. Warum war die Sache so kompliziert? - Nun, Probleme waren da, um gelöst zu werden. Ich versuchte es anders und begann, in jeder freien Minute die Behörden anzurufen. Die Leute vom Standesamt waren stets hilfsbereit, wühlten in Registern, zeigten viel Geduld. Nichts. In Zürich nichts, in St. Gallen nichts, in Frauenfeld und Winterthur auch nichts. Das Gleiche in Lausanne, in Genf, in Biel und in Freiburg. Ich wurde ziemlich hartnäckig vom Pech verfolgt. Dann plötzlich, in Luzern, sagte eine freundliche Stimme, die einer Frau Huber gehörte, sie werde mal nachsehen und ich solle nach der Mittagspause wieder anrufen. Ich ging mit den Kollegen Spaghetti essen. Ein großer Teller Spaghetti mit viel Parmesan machte jede Pleite erträglicher. Wir saßen beim Italiener, tauschten uns über den letzten Tratsch aus. Von Tibet war nicht mehr die Rede. Schwamm drüber, vergessen. Anschließend saß ich vor dem Computer und
gähnte. Um halb drei stahl ich mich aus dem Großraumbüro und tippte die Nummer in mein Handy, die mir Frau Huber gegeben hatte. Sie selbst war am Apparat; die gute Nachricht machte ihr richtig Freude.
»Ich glaube, dass ich etwas für Sie gefunden habe. 1983 adoptierten Verena und Christian von Garnier ein etwa achtzehn Monate altes tibetisches Kind. Der Junge befand sich ohne nachweisbare Angehörige in einem Lager des Roten Kreuzes in Dharamsala.«
Ein Vorgefühl flackerte in mir, sodass sich mein Magen mitsamt den Spaghetti fast umdrehte. Ich bemühte mich, ruhig zu sprechen.
»Könnten Sie mir die Adresse geben?«
»Die Familie lebte im Ausland. Der Vater war im diplomatischen Dienst. Aber wir haben noch ihre alte Adresse in Luzern.«
Ich notierte, was sie mir sagte. Eine Telefonnummer konnte sie mir nicht geben, aber das machte nichts. Nachdem ich mich ausgiebig bedankt hatte, unterhielten wir uns noch eine Weile über die Lage in Tibet. Danach ging ich ins Internet, tippte alle Angaben ein und fand wahrhaftig eine Mobilfunknummer und eine Mailadresse. Ich speicherte die Nummer in meinem Handy und rief an. Das Telefon läutete: einmal, zweimal, zehnmal. Ich nahm mir vor, nach Büroschluss wieder anzurufen.
Abends versuchte ich es noch einmal. Keine Antwort. Am nächsten Morgen auch. Das Gleiche in der Mittagszeit und abends. Das Telefon läutete buchstäblich ins Leere, und auf meine E-Mails kamen Fehlermeldungen als Antwort. Ein paar SMS, die ich schickte, blieben unbeantwortet. Ich forschte abermals im Internet und fand im gleichen Haus die Adresse einer Treuhandgesellschaft. Ich rief an; eine Mitarbeiterin nahm ab und nannte ihren Namen: Erika Tobler. Ich stellte mich meinerseits vor und fragte nach Herrn oder Frau von
Garnier. Die Antwort klang höflich, aber zurückhaltend. Ja, die Nummer sei schon richtig, aber Herr von Garnier sei momentan nicht zu erreichen. Und Frau von Garnier auch nicht, nein. Ja, wann denn?
»Probieren Sie es doch in der nächsten Woche noch einmal«, sagte Frau Tobler ausweichend.
Ich würde bei der Sache noch wahnsinnig werden. Amla erzählte ich nichts von dem ganzen Schlamassel. Ich wollte mit einer guten Nachricht zu ihr kommen, meinetwegen auch mit einer schlechten, aber nicht mit einer Nachricht, die keine war. Frustriert ließ ich das Wochenende verstreichen und rief am Montag wieder an. Keine Antwort, am Dienstag ebenfalls nicht. Abermals verging eine widerliche Woche. Nach wie vor wurden meine Mails mit Unzustellbarkeitsmeldungen beantwortet. Der Griff zum Handy, vier- oder fünfmal am Tag, war mir inzwischen zur Gewohnheit geworden. Manchmal war ich nahe daran, aufzugeben. Es gab einfach Dinge, die sich nicht erzwingen ließen. Aber hartnäckig, wie ich war, versuchte ich es immer
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