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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Porzellan. Ein Dekorum, üppig und gediegen, wo es nach Zimt und kandiertem Zucker duftete, nach Kaffee und frischem Kuchen. Ein Ort, der Rückzugsmöglichkeiten und Geborgenheit versprach, als Placebo für trostsuchende Seelen aus der Hightech-Welt. Ein Ort genau für mich gemacht.
    Ich öffnete mit steifen Händen meinen roten Daunenmantel
und nahm die Mütze ab. Ich fühlte mich nass, verlassen, unansehnlich. Als ich die Augen umherschweifen ließ, sah ich neben einer Topfpflanze einen Tibeter, der sich winkend erhob. Er trug einen dunklen Anzug, darüber eine wetterfeste Lederjacke und einen Wollschal um den Hals. Ich ging ihm entgegen; jeder Schritt, so schien mir, überwand einen Zeitabschnitt, während der junge Mann, der David Kanam hieß, mir seinerseits entgegenkam. Wir trafen uns ungefähr auf halbem Weg, waren uns schon ganz nah, nicht durch Zufall, sondern weil ich es gewollt und die Distanz überwunden hatte. Mehr noch als sein bloßer Anblick weckte seine ganze Erscheinung in mir ein körperliches Gefühl verschwommener Erinnerungen, das Aufleuchten und Wiederuntertauchen früherer Lebensbilder, die neue Räume suchten, um sich zu entfalten. Vielleicht kam er mir so unendlich vertraut vor, weil ich in Lhasa einige Menschen gesehen hatte, die ebenso hochgewachsen waren, die sein wohlgeformtes Gesicht hatten, das markante Kinn, die runden, ausgeprägten Wangenknochen. Seine Brauen waren dicht und schwarz, die eine leicht höher als die andere, der Mund weich und freundlich und sinnlich. Das Haar war eher gewellt als glatt, nicht ausgesprochen schwarz, sondern eher mahagonifarben. Die Augen standen weit auseinander und zeigten eine seltene Farbe, ein vergoldetes Olivgrün. Der Schnitt dieser Augen machte es schwer, die Herkunft des jungen Mannes zu erkennen - er hätte ebenso gut Italiener, Inder oder Südamerikaner sein können. Er hatte ein Gesicht, das überall, in jedem Land nur deswegen auffiel, weil es ein schönes, ein ausdrucksvolles Gesicht war. Und alles in allem war es das typische Antlitz der Reiternomaden Tibets.
    Wir standen uns gegenüber, starrten uns an, unsere Blicke versenkten sich ineinander, als hätten wir uns nach langer Trennung endlich wiedergefunden. Er lächelte mich an, etwas verwirrt, mit komisch herabgezogenen Mundwinkeln. Ich begann zu zittern, gegen meinen Willen und zu meinem Ärger,
und brach das Schweigen mit den ersten dummen Worten, die mir einfielen.
    »Sie müssen David Kanam sein. Sie sind der einzige tibetische Mensch hier.«
    »Jetzt nicht mehr«, erwiderte er augenzwinkernd.
    Tibeter verfügen für gewöhnlich über einen flinken Witz; jetzt aber brauchte ich ein paar Sekunden, bevor ich reagierte und in nervöses Lachen ausbrach.
    »Ach so! Ja, ja, natürlich!«
    »Sie waren sehr leicht zu erkennen«, meinte er und rückte mir einen Stuhl zurecht. Auf dem Tisch, an dem er saß, häuften sich Papiere, die er jetzt in einer Aktentasche verstaute.
    »Ich bin schon eine ganze Weile hier«, sagte er. »Ist das ein Mistwetter! Wie wär’s mit einer heißen Schokolade?«
    Er deutete auf seine Tasse, die er fast ausgetrunken hatte. Ich erwiderte sein Lächeln.
    »Großartig!«
    Die Kellnerin kam. David gab die Bestellung auf.
    »Kuchen?«, fragte er mich.
    Ich schüttelte den Kopf. Ein imaginärer Ring schnürte mir die Kehle zu.
    »Nein, danke. Ich kann nichts essen.«
    »Später vielleicht?«
    »Ja, später.«
    Wir sahen uns an. Ich hatte immer noch Herzklopfen. Vielleicht hatte sich gerade ein Wunder ereignet?
    »Wie haben Sie mich gefunden?«, nahm er das Gespräch wieder auf.
    »Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich.
    Er lächelte mit einem Gemisch aus Ironie und Betrübnis.
    »Ja, wir Tibeter schleppen lange Geschichten mit uns durchs Leben. Geschichten unserer Vorfahren, unserer in alle Winde verstreuten Familien. Ich - ich hänge wie in der Luft herum.«

    »Offen gestanden fällt es mir nicht gerade leicht, mit Ihnen zu reden«, sagte ich. »Man kann nicht gleich daherkommen und einem Fremden erklären, dass man in seiner Geschichte wühlt.«
    »Ich habe eigentlich nichts dagegen«, sagte er.
    Langsam wurde ich ruhiger.
    »Die Wahrheit ist, dass wir auf verworrene Art eine gemeinsame Geschichte haben.«
    »Sie und ich? Wieso das?«
    »Eins nach dem anderen«, entgegnete ich, »sonst komme ich durcheinander! Um es gleich vorwegzunehmen: Von Ihrem Vater weiß ich nichts, außer dass er erschossen wurde. Über Ihre Mutter habe ich einiges erfahren.«
    Ein

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