Das Haus der Tibeterin
in ihrer üblichen Haltung vor mir, beide Hände in die Hüften gestemmt. Ihre Augen waren forschend, durchdringend, ganz anders als Lhamos Augen, diese matten, kalten Spiegel. Aber es gab doch eine Ähnlichkeit zwischen ihnen - in der Kopfhaltung, in den Bewegungen.
»Kaffee?«, fragte sie.
»Ja, gern.«
Sie ging in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an und holte zwei Tassen aus dem Schrank. Ich stellte Milch und Zucker auf den Tisch und sagte: »Ich habe dir Buttergipfel mitgebracht. Sie sind noch ganz warm.«
»Aus Lhasa?«
Ich lachte, und sie lachte herzlich zurück. Ich sah ihre weißen Zähne blitzen. Dann kam sie mit den Tassen zurück und setzte sich. Ich hielt ihr die Tüte vom Bäcker hin. Sie nahm ein Buttergipfel und biss hinein, wobei eine Menge Krümel auf den Tisch fielen. Ich schlürfte den Kaffee mit Behagen.
»Jetzt fühle ich endlich, dass ich wieder da bin.«
Sie hob ihre Brauen.
»War’s schlimm?«
»Nicht eigentlich schlimm.«
»Aber auch nicht schön.«
»Du weißt ja, wie das auf solchen Reisen ist: Man sieht vieles und nichts.«
Sie nickte und fegte die Krümel mit der Handkante weg. Ich sagte: »Ich habe dir etwas mitgebracht.«
Ich zog die Brieftasche hervor und reichte ihr das Bild über den Tisch. Sonam sah die Aufnahme und würgte den letzten Bissen herunter. Bevor sie das Foto nahm, putzte sie sich Hände und Lippen mit einer Papierserviette ab. Dann setzte sie ihre Brille auf, nahm das Bild und hielt es mit jener Geste, die auch Lhamos Geste gewesen war. Ich sah, wie ihr Gesicht erstarrte.
»Mein Gott!«, stieß sie hervor. »Ich kann es nicht glauben!«
Für ein paar Atemzüge vermochte sie den Blick nicht von dem Foto zu lösen. Dann hob sie jäh die Augen und sah mich an.
»Wie kommst du zu diesem Bild?«
»Ich war bei Lhamo. Sie hatte es in ihren Sachen.«
»Wie?«, rief sie. »Du hast Lhamo gesehen? Wie geht es ihr?«
»Den Umständen entsprechend. Aber ich kann das schlecht beurteilen.«
Ich erzählte sehr unsystematisch, wie es mir gerade in den Sinn kam. Wörter und Gefühle fielen mir ein, erst jetzt konnte ich beschreiben, was ich erlebt hatte; alles kam zurück, lebendig und trostlos, alles Verschollene war plötzlich wieder
da. Sonam hörte zu, gesammelt und aufmerksam, wobei sie manchmal mit dem Kopf nickte, als ob sie genau sehen konnte, was ich erzählte. Es wühlte sie auf, was ich ihr an Eindrücken mitteilte. In ihrer Erschütterung lehnte sie sich über den Tisch, als suchte sie instinktiv mehr Nähe zu mir. Ich sah dicht vor mir ihr schön gebildetes Gesicht; eine sonderbar blasse Farbe hatte es jetzt - die feine Nase, die Augen hinter der Brille, in denen plötzlich Tränen wie wässrige Funken schwammen. In dieser Haltung saß sie eine ganze Weile regungslos und kam erst wieder zu sich, als ich eine Atempause einlegte und sie tief aufseufzte.
»Jahrelang wusste ich nicht, woran ich mit Lhamo war. Sie beantwortete meine Briefe ja immer nur mit ein paar Zeilen - oder überhaupt nicht.«
»Sie befürchtete, du könntest ihr böse sein. Wegen dem, was im Lager mit dir geschah.«
Ihre Antwort klang vollkommen sachlich.
»Ach so, deswegen. Aber sie konnte sich ja nicht einmischen. Ihr wäre sofort … das Gleiche passiert. Mir wäre das wirklich nicht recht gewesen.«
»Es war zum Kotzen«, sagte ich.
Sie nickte gleichmütig.
»Da hast du allerdings recht.«
Während sie sprach, kehrten ihre Augen unentwegt zu dem Bild zurück. Ehrfürchtig nahm sie es wieder auf, hielt es leicht von sich, um es zu betrachten.
»Der Stallknecht ist Tashi. Das Pferd muss Rongpa sein.«
»Rongpa?«
»Ja, ich glaube, dass es Rongpa ist. Er war ein Vollblut, ein großer, prächtiger Brauner, mit einer Blässe auf der Stirn. Da, siehst du? Man erkennt sie gut. Ein heißblütiger Hengst, jähzornig und sehr eigenwillig. Die Knechte fanden ihn böse, und die Eltern hatten immer etwas Angst, wenn ich mich ihm näherte. Aber ich konnte ihn zum sanften Kätzchen machen.«
»Was für ein Gedächtnis du hast!«
Sie schüttelte traumverloren den Kopf.
»Solche Dinge sehe ich klar, andere eben nicht. Rongpa gehörte zum Haus, verstehst du? Es war ein Haus, wie es in der Welt kein zweites gab! Und weißt du was? Wenn ich das Haus jetzt betrachte, auf diesem Foto, dann ist mir, als sähe ich bereits die Toten, die noch kommen …«
Eine Gänsehaut überlief mich. Ich wollte ihr sagen: Solche Gedanken sind morbide; die sollst du nicht haben! Stattdessen
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