Das Haus der Tibeterin
eindeutiger Zug von Melancholie lag um seinen Mund. Mit Bitterkeit in der Stimme sagte er: »Ich selbst entsinne mich an nichts. Versuche ich mich zu erinnern, ist es wie im Halbschlaf, wenn man abstürzt ins Bodenlose. Manche würden sich da nicht den Kopf zerbrechen und ganz zufrieden leben. Mich beunruhigt das sehr. - Psychoanalyse? In Rekordzeit zu wissen, wer man ist? Sehr verlockend, aber nichts für mich. Ich bin zu rational. Ich hoffe, dass Sie mir helfen können.«
»Ich mache keine Analysen. Und ich heiße Dolkar.«
»Und du, wie willst du mich nennen?«
»Wie nennen dich die Leute im Allgemeinen?«
»Im Allgemeinen nennen sie mich David.«
»Macht es dir was aus, wenn ich Kanam zu dir sage?«
»Nichts würde mir größere Freude machen«, erwiderte er.
Die Kellnerin brachte ein zweites Kännchen Schokolade. Kanam füllte meine Tasse.
»Da, probier mal, die ist wirklich gut! Etwas Sahne dazu?«
»Alles«, sagte ich, »alles, was dick macht. Ich habe in letzter Zeit so viel abgenommen!«
»Meinetwegen?«
»Ja, auch deinetwegen.«
»Warum?«
Die Schokolade war heiß. Ich nahm einen Schluck, verbrannte mir die Zunge und rührte hastig um.
»Von uns beiden wird jetzt Mut verlangt«, sagte ich, den Blick auf die Tasse gerichtet. »Von mir, weil ich es dir sagen muss, und von dir, weil du es hören wirst.«
Und so begann ich meine Schilderungen, ohne zu versuchen, so etwas wie eine Methode, eine Folge, eine Art Ordnung hineinzubringen. Ich wäre dazu nicht fähig gewesen. Ich überließ mich völlig dem Fluidum des Augenblicks, sprach irgendwie von allem gleichzeitig. Und ich sah dabei Kanams Gesicht, dessen Züge die Abfolge verschiedener Empfindungen ausdrückten: Neugier, Ungläubigkeit, Erstaunen, Besorgnis, Schmerz und Zorn. Und während ich sprach, fühlte ich mich für all die ausgestandenen Strapazen, die seelischen Erschütterungen, die Zweifel belohnt - weit über meine Erwartungen hinaus. Denn ich gab Kanam seine Geschichte zurück, die Geschichte seiner Vorfahren, die gelebt, gekämpft und gelitten hatten. Ich sah in aller Deutlichkeit, wie er jedes Wort aufnahm, weil sein Schicksal ihn von etwas Wesentlichem getrennt hatte: der Ursprungssituation, in der das Kind sich ganz in der Obhut der Mutter befindet. Kaum hatte Kanam den Schoß der Mutter verlassen, war sie ihm schon nach dem ersten Atemholen brutal entrissen wurden. Er war gezwungen worden, seine Mutter in ohnmächtigem Schmerz zurückzulassen und sich vollkommen allein der bewussten Welt zu stellen. Ja, man konnte sagen, er hatte schon eine Wiedergeburt aus tiefster Entfremdung erlebt. Ein anderer wäre daran zerbrochen.
Kanams Augen blickten in eine Vergangenheit, die es für ihn nie gegeben hatte. Zwischen ihm und seinen Vorfahren gab es keine Möglichkeit des Austausches, der Übertragung. Er existierte eben. Es war nicht die Einsamkeit des Ausgestoßenen, die er durchmachte, sondern die Einsamkeit, die von den unsichtbaren
Gesichtern, den toten Augen kam. Schaute er in die Vergangenheit, schaute er nirgendwohin. Und jetzt gewannen die unsichtbaren Gesichter Konturen, aus dem Abgrund der Zeiten blickten Augen auf ihn. Kanams Trauer war vielleicht nie übergroß gewesen. Womöglich würde sie es bald werden. Die Zeit würde sie nicht heilen. Ja, es war ein bitterer Kern, den ich in sein Herz pflanzte, aber er würde Wurzeln schlagen und Blüten und Früchte tragen für sein zukünftiges Leben. All diese Dinge erkannte ich klar und genau, konnte sie in Worte kleiden und übermitteln. Dabei verlor ich jedes Zeitgefühl - ich befand mich in einem seltsamen Schwebezustand, wie in Trance, bis meine Kehle unvermittelt trocken wurde und ein Hustenanfall mich schüttelte.
»Trink einen Schluck!«, hörte ich Kanam sagen.
Er hielt mir das Glas Wasser hin, das die Kellnerin mit der Schokolade gebracht hatte. Er reichte mir das Glas mit einer anmutigen Bewegung, angesichts derer ich mir plump und tölpelhaft vorkam, ungeschickt auch, wie ich gierig ein paar Schlucke trank.
»Jetzt weißt du, wer deine Vorfahren waren, so wie ich es auch weiß«, sagte ich zu ihm, als ich wieder sprechen konnte.
Er verbarg seine Erschütterung hinter einem kleinen, traurigen Lächeln.
»Räuber, Attentäter, Rebellen …«
»Ein bisschen von alldem. Aber Helden waren sie alle. Und nur die Guten sterben jung.«
Er sah mich an, blass und in sich versunken.
»Meine Mutter warf also die Bombe, um meinen Vater zu rächen?«
»Ich weiß nicht
Weitere Kostenlose Bücher