Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
Vom Netzwerk:
einmal, ob sie verheiratet waren. Aber das spielt keine Rolle. Jedenfalls haben sie sich geliebt. Sie wurde gefasst und in Drapchi eingeliefert.«
    Mir klopfte das Herz. Ich quälte mich damit, es ihm zu sagen, ohne in Tränen auszubrechen.

    »Wer nach Drapchi kam, hatte keine Überlebenschance.« Ich stellte mir Tseyang vor, wie sie auf dem kalten Boden lag, in ihrem Blut, und an ihrer Brust ruhte das Neugeborene. Und dann kamen Hände, rissen ihr das Kind weg, packten sie, schleppten sie zum Verhör.
    »Sie wurde mit elektrischen Viehtreiberstöcken geschlagen. Ich habe Protokolle gelesen: Die Elektroschocks schleuderten die Gefangenen durch die Zelle. Tseyang überlebte es nicht. Und dich hätte man, kaum auf der Welt, auch getötet. Oder zu medizinischen Versuchen missbraucht. Vivisektion und Ähnliches. Ach, lass uns nicht mehr davon reden, sonst wird mir schlecht.«
    »Wie kommt es, dass ich gerettet wurde?«
    »Nach Lhamos Fehlgeburt war sie vermutlich depressiv. Für ihren Mann, der ja die Verhöre leitete, warst du ein Mittel zum Zweck, eine Art Spielzeug zur Ablenkung, nicht mehr und nicht weniger. Sie sollte sich erholen.«
    »Ich verstehe.«
    »Dass Lhamo Gefühle für dich entwickelte, nahm er wohl kaum zur Kenntnis. Seiner Generation war eingebläut worden, dass Emotionen der Revolution schadeten. Folglich hatte er keine. Sobald er es für angebracht hielt, hätte er dich ohne Gewissensbisse im Waisenhaus abgeliefert. Lhamo handelte, ohne ihn zu fragen; zur damaligen Zeit ein waghalsiger Entschluss. Im Waisenhaus wärst du verkommen, wie so viele. Nichts als Unterdrückung und Schinderei. Keine Pflege, keine Bildung. Waisenkinder arbeiteten im Straßenbau, in Bergwerken. Sie blieben klein wie Zwerge, verkrüppelten an Körper und Geist.«
    Er nickte wortlos, war weit weg in Gedanken, hinabgetaucht in die bodenlose, grauenvolle Tiefe der Vergangenheit. Mir graute vor seinen Gedanken. Er war ihnen ausgeliefert, sie waren ihm eine Last, er lehnte sich dagegen auf und konnte sie doch nicht abschütteln. Schließlich bewegte er sich und sagte
mit stockender Stimme: »Es geschieht ja auch heute noch. Und kaum jemand legt Protest ein. Man muss China schonen. Für das tibetische Volk wird keine Trauer getragen.«
    »Ja. Die Trauer tragen nur wir, die Betroffenen.«
    Er sprach still und tonlos, wie man im innigsten Vertrauen spricht.
    »Wir müssen gegen das Vergessen ankämpfen. Mit all unseren Kräften müssen wir das.«
    »Wenn wir denken, der Kampf wäre aus, dann ist das nur eine feige Gewohnheit.«
    Er sah mich an, mit diesem eigentümlichen, traurigen Blick.
    »Ich danke dir, dass du mir das alles gesagt hast.«
    Noch immer schlug mir heftig das Herz. Ich spürte, wie meine Mundwinkel zitterten.
    »Eventuell fallen mir später noch Einzelheiten ein.«
    »Ich möchte sie gern hören.«
    »Dann gibt es vielleicht eine Gelegenheit, dass wir uns wiedersehen?«
    »Dich heute schon zu verlassen, innerhalb so kurzer Zeit, würde mir eigentlich schwerfallen …«
    »Es kann ja sein, dass mir die Einzelheiten heute noch einfallen.« Unsere Augen hielten einander fest. Er machte eine Bewegung zu mir hin, die Neugier auszudrücken schien.
    »Was bist du von Beruf?«
    »Architektin. Zurzeit bin ich als Bauzeichnerin im ›Atelier 5‹ angestellt. Ist so ziemlich das bekannteste Architekturbüro in Zürich und Umgebung.«
    »Woran arbeitest du jetzt?«
    »An einem Wasserwerk in Glatt-Brugg.«
    Er sah mich an, amüsiert und etwas skeptisch.
    »Macht das Spaß?«
    »Im Augenblick überhaupt nicht. Aber das kommt noch.«
    Er entspannte sich allmählich, erwiderte mein Lächeln,
wenn auch nur flüchtig. Ich fragte: »Und du? Was treibst du so im Leben?«
    »Ich studiere. Politische Wissenschaft. In einem Jahr bin ich fertig. Ich hoffe es zumindest.«
    »Warum hast du dich nicht früher gemeldet? Warst du im Urlaub?
    Er antwortete mit Mühe.
    »Ich … ich habe vor einer Woche meinen Vater bestattet.«
    Ich starrte ihn erschüttert an. Jetzt wurde mir vieles klar.
    »Woran ist er gestorben?«
    »Lungenentzündung. Er lag im Krankenhaus. Ich war jeden Tag bei ihm.«
    »Wie alt war er?«
    »Er wäre im Februar zweiundsiebzig geworden. Er hatte in Brüssel im Europarat gearbeitet und war erst seit drei Jahren pensioniert. Er spielte sehr gern Golf und hätte jetzt endlich Zeit dazu gehabt. Aber einfach nur den Schläger schwingen und keine Zukunftspläne haben - das konnte er einfach nicht. Er war Berater für Schweizer

Weitere Kostenlose Bücher