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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Firmen mit Niederlassungen in Asien. Bevor wir nach Brüssel gingen, waren wir fünf Jahre in Neu Delhi und drei Jahre in Singapur gewesen. Mein Vater war ein renommierter Experte für wirtschaftspolitische Fragen. Und dann hat er sich beim Golfspielen erkältet, und jetzt ist er tot.«
    »Ist es sehr schlimm für dich?«
    »Ja, ziemlich. Ich habe ihn sehr lieb gehabt. Aber jetzt geht es mir besser …«
    »Und deine Mutter? Wie verkraftet sie es?«
    Er schüttelte leicht den Kopf.
    »Sie ist schon seit acht Jahren tot.«
    »Oh, das tut mir leid!«, flüsterte ich.
    Ein blasses Lächeln verzog sein Gesicht.
    »Du siehst, jetzt bin ich schon wieder ein Waisenkind.«
    »Zweimal im Leben«, sagte ich, »ist eindeutig zu viel.«
    »Da bin ich ganz deiner Meinung.«

    »Hast du Verwandte? Ich meine, Verwandte hier in der Schweiz?«
    »Einige, obwohl wir nicht viel Kontakt hatten. Wir lebten ja in Brüssel. Dort habe ich auch das Abitur gemacht. Meine Mutter war bei der Flüchtlingskommission.«
    »Warum sind meine E-Mails nicht bei dir angekommen?«
    »Es gibt Zeiten, in denen du keine E-Mails mehr abrufen magst, egal, ob dein E-Mail-Postfach irgendwann so voll ist, dass keine Mails mehr ankommen. Ich hasste auch das Telefon, weil die Leute anriefen und fragten, wie es meinem Vater ging. Wo ich doch wusste, dass er im Sterben lag, und es doch lieber gar nicht wissen wollte und die Leute auch nicht anlügen konnte. Und danach hatte ich mich um alles zu kümmern: Benachrichtigungen - telefonisch, per Brief -, Zeitungsanzeigen, auch um die Bestattung. Mein Vater wollte eingeäschert werden. Eine Kusine half mir, das alles zu organisieren. Und jetzt sitze ich ganz allein im Haus und wühle in Papieren. Heute hatte ich einen Termin bei unserem Zürcher Notar. Es gibt verschiedene Dinge zu erledigen …«
    Eine Frau saß am Nebentisch und las die Zeitung. Ein Mann kam hastig herein, winkte, zog seine nasse Regenjacke aus.
    »So spät?«, fragte die Frau.
    Er setzte sich, rieb sich die steifen Hände.
    »Glatteis. Ich brachte den Wagen nicht aus der Garage. Und alle Taxis waren besetzt.«
    »Warum bist du nicht mit der S-Bahn gekommen?«
    »Die fährt auch nicht. Der ganze Zugverkehr liegt lahm. Nur die Straßenbahnen fahren noch. Schon sieben Grad unter null. Und die Temperatur fällt ständig. Das gibt noch was.«
    Ich fragte Kanam: »Musst du heute wieder nach Luzern?«
    Er verzog das Gesicht.
    »Bei Glatteis? Ich werde mir ein Hotelzimmer nehmen.«
    »Wir könnten zu mir gehen. Ich habe ein Gästezimmer. Und auch noch zwei Pizzas, die ich in den Ofen schieben kann.«

    »Auch gut«, sagte Kanam.
    Er rief die Kellnerin und zahlte. Draußen schneite es. Ein Vorhang aus weißen Flocken, immer mehr Schnee, immer mehr. Alle Wagen fuhren im Schritttempo. Man sah die dunklen Spuren der Reifen, und der Schnee war noch reichlich locker, aber darunter war der schwarze, glitzernde Asphalt schon mit einer Eisschicht überzogen.
    »Was meinst du? Soll ich meinen Wagen holen?«, fragte Kanam.
    »Hast du Gepäck?«
    Er wies auf seine große Aktentasche.
    »Nein. Ich habe hier alles, was ich brauche.«
    »Gut, dann fahren wir lieber mit der Straßenbahn.«
    Die Straßenbahn war vollgestopft mit Leuten, die alle schnell nach Hause wollten. Die Straßen wurden mit Salz bestreut, trotzdem gab es an fast jeder Kreuzung Blechschäden. Als Vorboten der kommenden Dunkelheit zeigte der Himmel eine schmutzig gelbe Farbe. Kanam blickte stirnrunzelnd nach oben.
    »Ein Abend für die Yaks!«
    »Der Abend wird mir in Erinnerung bleiben«, sagte ich.
    Er verstand sofort, was ich meinte, und zeigte ein kleines Lächeln.
    »Ja, Abende wie diese müssen wir wichtig nehmen.«

FÜNFZIGSTES KAPITEL
    D ie Straßenbahnen fuhren langsam unter den Fäden der Weihnachtsbeleuchtung und den schneegefiederten Bäumen. Die Äste hingen tief, bereit, bei jedem Windstoß ihre Schneelast abzuschütteln. Es war kurz nach Ladenschluss. Die Leute stiegen vorsichtig ein und aus, entfernten sich mit unsicheren Schritten. Halbwüchsige warfen sich Schneebälle zu; ihre langen Schatten hüpften auf dem weißen Geglitzer. Hier und da standen Autos schräg auf der Straße. Im Schneetreiben bemühten sich die Fahrer, sie irgendwie auf die Seite zu lenken.
    Auf der Treppe zur Haustür hatte der Hausmeister Salz gestreut; hier zerging der Schnee zu grauem Matsch. Auf der Matte vor der Tür klopften wir den Schnee von Schuhen und Kleidern. Wir gingen durch den Flur und nahmen den

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