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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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ließ ihr wenig Hoffnung. Und sie selbst sagte dann: ›Genug!‹«
    »Ich verstehe.«
    »Danach verbrachte ich einige Jahre in einem Jesuiteninternat.«
    »Wie hat es dir dort gefallen?«
    »Manche Jugendliche sind im Internat unglücklich. Bei mir war es eher das Gegenteil. Vielleicht, weil es eine Art Kloster war, und Klöster sind ja in Tibet Stätten des Wissens. Es ist ein Privileg, zu lernen. Mit hat das Internat gutgetan. Ich kam mit Gleichaltrigen aus verschiedenen Ländern zusammen. Außerdem hatten wir gute Lehrer und wurden nicht im Geringsten zu Herdentieren gedrillt. Dass ich nicht katholisch war, störte die Patres überhaupt nicht. Ich ging gern zur Messe, weil sie in
Latein gesungen wurde. Latein ist wunderbar rational, wie eine Art Feinmechanik. Sag ich einen Satz auf Lateinisch, vermeine ich fast das Klicken zu hören, wenn sich die Worte in die richtige Stellung schieben.«
    »Haben sie nicht versucht, dich zu bekehren?«
    »Die Jesuiten? Nein; sie dachten sehr aufgeschlossen und sagten, der Buddhismus sei gut. Und vor dem Dalai-Lama hatten sie großen Respekt. Einmal musste ich im Unterricht einen Vortrag über Tibet halten. Einer der Patres hatte Tibet bereist, sagte es mir aber erst hinterher, sodass ich mir idiotisch vorkam. Er hat mir trotzdem eine gute Note gegeben.«
    Wir hantierten eine Weile in der Küche. Er stand vor dem Mikrowellenherd, als er plötzlich herzlich lachte. Sobald er lachte, hatte er sehr schöne, lustige Augen.
    »Was ist?«, fragte ich.
    »Vor ein paar Stunden kannten wir uns noch gar nicht, und jetzt stehen wir zusammen in der Küche. Findest du das nicht seltsam?«
    Ich reichte ihm die Salatschüssel.
    »Doch. Ich habe darüber nachgedacht.«
    Er war überrascht.
    »Ach, seit wann denn?«
    »Seitdem ich dich im Schober sah. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass unsere Begegnung irgendwie … vorprogrammiert gewesen sei.«
    Er starrte mich an.
    »Ja, aber von wem?«
    Ich zog die Schultern hoch.
    »Ich weiß es nicht. Von unseren Vorfahren vielleicht?«
    »Wie kommst du darauf?«
    Ich antwortete mit großer Zärtlichkeit: »Unsere Vorfahren, das wirst du bald erleben, benehmen sich manchmal sehr merkwürdig.«
    Der Salat war gemischt, und aus dem Backofen duftete es
gut nach den Pizzas, die fast fertig waren. Kanam deckte nach meinen Angaben den Tisch. Ich kam mit einem Korkenzieher und einer Flasche Wein, die ich zum Geburtstag von Kollegen bekommen hatte.
    »Ist der gut?«, fragte ich zweifelnd. »Ich verstehe nichts von Weinen.«
    »Lass sehen«, sagte Kanam. »Mein Vater war ein guter Weinkenner.«
    Er öffnete die Flasche mit flinken, geübten Bewegungen und probierte den Wein, indem er ihn leicht im Glas kreisen ließ. Dann nickte er mir zu.
    »Doch, der ist ausgezeichnet.«
    Ich zündete eine Kerze an. Draußen fiel der Schnee, weiß, lautlos und stetig. Wir fühlten uns wie in eine Kapsel eingeschlossen, jenseits von Raum und Zeit. Wir saßen einander gegenüber und ließen uns die Pizzas schmecken. Sie waren gut; ich kaufte sie nur beim Italiener.
    »Und nach dem Internat, wie ging es weiter?«, fragte ich.
    »Ich studierte Jura. Eigentlich wollte ich Anwalt werden. Aber dann merkte ich, dass die Arbeit in einer Kanzlei auf die Dauer nichts für mich war. Was mein Vater machte, interessierte mich erheblich mehr. Und die Spielregeln der Rechtsprechung sind international. Ich peile das Auswärtige Amt an. Für Tibet auf diplomatischem Parkett zu kämpfen ist heute wohl die einzige Art, etwas in Gang zu bringen. Vielleicht sehe ich die Dinge zu idealistisch. Na ja, mir bleibt noch Zeit. Im Augenblick kümmere ich mich um die Sachen meines Vaters. Er hatte zu viel am Hals und war am Ende nachlässig. Es ist einigermaßen abscheulich. Was soll ich wegschmeißen, was nicht? Was macht man mit Erinnerungsstücken? Welche sind wichtig? Auf welche kannst du verzichten? Es ist deprimierend, fortwährend solche Entscheidungen zu treffen.«
    »Aber da musst du durch«, sagte ich.
    Er nickte.

    »Ich weiß nicht, wie andere Adoptivkinder damit umgehen. Ohne meine leiblichen Eltern wäre ich ja nicht auf der Welt. Verena sagte stets, dass ich sie nicht vergesse dürfte. ›Du musst ihnen dankbar sein und für sie beten‹, sagte sie - sie war ja katholisch. Und dann faltete ich die Hände und sprach vor dem Schlafengehen: ›Lieber Gott, beschütze meine ersten Eltern.‹ Verena hatte mir erklärt, dass in Tibet die Lebenserwartung nur vierzig Jahre beträgt. Dass sich

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