Das Haus der Tibeterin
Händeklatschen hörte. Jemand spielte ein Volkslied auf der »Dran-nye«, so mühelos, rein und klar, dass Longsela und auch die Friseurin - eine rundliche, lustige Frau - die Melodie unwillkürlich mitsummten. Longsela kannte nur einen Menschen, der so gut Dran-nye spielte: ihre eigene Mutter. Doch Yangzom würde nicht draußen im Garten, am helllichten Tag und vor Bekannten und Unbekannten, spielen; sie hätte eine solche Zurschaustellung als unbescheiden empfunden. Longsela, von Neugier gepackt, lief zum Fenster - obwohl ihre Frisur noch nicht fertig hergerichtet war - und beugte sich hinaus. Da sah sie im Schatten eines Aprikosenbaums einen fremden, gut gekleideten jungen Mann. Er hatte seine
Dran-nye aus der seidenen Hülle befreit und saß mit untergeschlagenen Beinen im Gras. Er spielte mit einem fröhlichen Lächeln auf dem Gesicht, die Dienstboten und Pferdeknechte standen um ihn herum und klatschten in die Hände, während einige jüngere Leute Tanzschritte andeuteten. Die Stimmung war so ausgelassen und mitreißend, dass Longsela, die das Lied kannte und von ihrer Mutter die schöne Stimme geerbt hatte, sich aus dem Fenster lehnte und zu den Klängen der Musik eine Strophe sang. Der junge Mann hob den Kopf, sah die anmutige junge Frau und lachte zu ihr empor. Umgeben von den rhythmisch stampfenden Dienstboten richtete er sich auf und näherte sich, immer noch spielend, dem Haus. Als das Lied zu Ende war, verneigte er sich zum Scherz und schwenkte seinen Filzhut, wie die wandernden Gaukler es tun. Longsela wurde rot, lachte verlegen und verzog sich schnell. Sie setzte sich mit heißen Wangen wieder vor den Spiegel und mahnte die Friseurin zur Eile. Sobald sie fertig frisiert, geschminkt und angekleidet war, begab sie sich in den Salon, wo sich die Gäste bereits eingefunden hatten. Longsela kannte die meisten und begrüßte sie herzlich, während der junge Mann etwas abseits stand. Longselas Augen glitten immer wieder flüchtig zu ihm hin, und ihr fiel auf, dass auch er sie verstohlen musterte. Es war, als ob ihre Blicke sich von beider Willen unabhängig machten, einander immer wieder suchten. Wer ist dieser junge Mann?, fragte sich Longsela unentwegt. Ein Verwandter? Das konnte nicht sein! Bald hatte sie des Rätsels Lösung. Sie wurden einander vorgestellt, ihre Blicke versenkten sich ineinander, als hätten die beiden sich nach Jahrhunderten wiedergefunden. Und doch sahen sie sich zum ersten Mal. Wie das sein konnte? Nun, es bestand die alte Sitte, dass bei allen Festen und Feiern die Gäste auch nicht eingeladene Verwandte und Freunde mitbringen durften. Platz war ja genug vorhanden. Die Eltern hatten Namgyal Gashi, einen entfernten Cousin, und seine Frau Yudon eingeladen. Sie waren mit ihren vier
Kindern aus der südlich gelegenen Stadt Shigatse gekommen. Diese sprangen mit dem gleichaltrigen Thubten zwischen den Gästen herum und ließen ein ausgelassenes Durcheinander entstehen. Kinder waren bei jeder Feier dabei, und keiner verlangte, dass man sie hinausschickte, auch wenn sie kreischten und tobten. Yudon ihrerseits hatte ihren Bruder Loten Wangyel eingeladen, einen freundlichen, Brille tragenden melancholischen Herrn, der im Winter seine Frau verloren hatte. Seine beiden Töchter studierten in Indien, und er fühlte sich einsam. Yudon meinte, dass ein wenig Zerstreuung ihm guttun würde. Und Loten wiederum hatte seinen Sekretär Dorje Kadrun mitgebracht, der gleichzeitig sein Schwager war, sowie dessen Frau Dechen, die aus Bhutan stammte und sehr schön war. Paldor - der junge Mann eben, der so gut musizierte - war ihr Sohn. Während Erfrischungen gereicht wurden und die Gäste sich unterhielten, setzten sich Longsela und Paldor auf die rot-grün gepolsterte Bank unter dem Erkerfenster, scherzten miteinander, plauderten über dieses und jenes. Dabei lächelten sie einander an, verschwörerisch und etwas befangen. Paldor erzählte von seiner Arbeit. Der Onkel mit der Brille - den Longsela zum ersten Mal sah - war ein hoher Regierungsbeamter. Seit vielen Jahrhunderten war es üblich, dass die Regierung den Adeligen als Belohnung für deren Verdienste um den Staat Land übereignete. So kam es, dass der Onkel in Shigatse mehrere ausgedehnte Güter besaß. Die Beamten bezogen allerdings kein Gehalt, weil sie ja ihre Einkünfte aus den Ländereien hatten. Diese aber konnten den oftmals sehr aufwändigen Lebensunterhalt der Familie nicht decken, und deswegen war die Verwaltung eine sehr komplizierte
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