Das Haus der Tibeterin
er bereits Abt war, gestattete ihnen ihre Verwandtschaft diese Vertraulichkeit. Der junge Rimpoche schenkte ihr seine volle Aufmerksamkeit; die Veränderung, die mit seiner Schwester vorging, war ihm nicht entgangen. Das Preisgeben eines Geheimnisses kann eine Erleichterung sein. Longsela sprach ruhig, aber mit trotziger Miene, und gestand ihm, dass sie sich gleich beim ersten Anblick in einen jungen Mann verliebt hatte.
»Er ist nicht von unserem Stand. Aber das ist mir gleich. Ich bin erwachsen, und ich habe mich entschieden!«
»Bist du sicher, dass er keine Illusion ist?«
Longselas Stimme bebte.
»Auch wenn er nur eine Illusion ist, werde ich immer an ihn denken, weil es ihn gibt. Er wird immer da sein, in meinem Herzen. Es ist, als ob dieser Mensch zu mir gehört.«
Dawa Rimpoche sah sie lange an, bevor er langsam nickte.
»Ich entsinne mich, wie traurig ich war, als man mich als kleinen Jungen ins Kloster brachte. Trotzdem spürte ich, dass es kein unpersönliches Opfer war. Dass da etwas Größeres war, etwas, das mir Kraft gab. Und als ich zu begreifen lernte, dass diese Kraft aus mir selbst wuchs, da wurde ich stark und mein Glaube blühte wie der Frühling. Das erzähle ich zum ersten Mal. Aber es muss sein, damit du siehst, dass ich dich verstehe …«
Longsela dachte lange über Dawas Worte nach. Auch sie spürte jene eigentümliche Kraft, die in ihr wuchs und stärker wurde. Einer Vision gleich sah sie diese Kraft aus sich hinaus wachsen, in einem Halbkreis sich immer weiter ausdehnen, einer regenbogenfarbenen Brücke ähnlich, die sie mit Paldor verband. Es lag nur an ihr, diese Brücke zu festigen. Sie konzentrierte sich auf ihr Ziel, nichts anderes mehr war wichtig. Oft ertappte sie sich dabei, wie ihre Finger, die so feingliedrig und stark waren, die Dzi-Steine streichelten, wie ihre Lippen
die magischen Worte flüsterten, die ihr Tesla einst beigebracht hatte:
»Wie das Blut, so rot
Wie die Erde, so braun
Wie die Sonne, so gelb
Steine, erfüllt meinen Wunsch!«
Dann kam sie wieder zur Vernunft, schüttelte den Kopf, lächelte über sich selbst. Ach, doch nur Aberglaube?
Später sollte sich Longsela oft fragen, ob es nach ihrem Gespräch mit Dawa nur Zufall war, dass ihr Vater gelegentlich über Schwierigkeiten klagte, die ihm in der Verwaltung seiner Ländereien Kopfzerbrechen machten. Und ob es wirklich nur Zufall war, dass er kurz vor Neujahr in beiläufigem Ton verkündete: »Ich brauche einen guten Rat und habe Onkel Loten geschrieben, ob er seinen Sekretär für kurze Zeit entbehren kann. Dorje Kadrun gilt als überaus tüchtig. Er könnte mit seiner Familie herkommen und das Neujahrsfest bei uns verbringen.«
»Ja, und der junge Paldor soll seine Dran-nye nicht vergessen«, setzte Yangzom im gleichen Ton hinzu. »Ich bin in seine Musik ganz vernarrt!«
Verschämt und voller Furcht, sie könnten ihr Geheimnis verraten, schlug Longsela die Augen nieder und blieb stumm. Ihr Geheimnis war für sie groß und heilig, doch der Zauber der Liebe wirkte in ihr wie eine Magie, die ihr Herz und ihre Fantasie verwandelte. Die Worte der Khammo hallten wie ein fernes Echo in ihr wider: »Die Steine sind magisch und wirken immer.« Und dass die Steine sie liebten, das wusste Longsela ja.
Und so kam Paldor mit seinen Eltern nach Lhasa zurück. Die meisten Ehen wurden von der Familie in die Wege geleitet. Und obwohl man durchaus billigte, dass junge Leute sich verliebten, wurden Heiratskandidaten gleichen Standes bevorzugt. Aber Tenzin und Yangzom lag das Glück ihrer Tochter
am Herzen. Außerdem war die junge Frau so unabhängig, dass sie auch in Zukunft jedem Bewerber, der ihr nicht zusagte, die kalte Schulter gezeigt hätte. Paldors guter Charakter, sein aufrichtiges, freundliches Wesen, sprachen zu seinen Gunsten. Beide Elternteile führten Gespräche, die alle zur gegenseitigen Zufriedenheit ausfielen. Das kluge, würdevolle Auftreten des Vaters, die Schönheit und der geistreiche Humor der Mutter glichen das Fehlen an materiellen Gütern aus. Longselas Eltern waren reich genug und machten sich deshalb wenig Sorgen. Natürlich war der Segen der Schutzgottheit sehr wichtig. Dawa Rimpoche, zu Rate gezogen, schickte den Astrologen des Sakya-Klosters.
Gendün Nechun war uralt; man sagte, über hundert Jahre alt. In seinem runzligen dunklen Gesicht, wie aus Holz geschnitzt, leuchteten unwahrscheinlich schwarze Augen, gleichsam fiebrig, verschleiert und stechend. Dieser Astrologe war sehr
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