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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Angelegenheit. Die Stellung, die Paldors Vater Dorje bekleidete, war überaus ehrenvoll. Dorje kannte sich vorzüglich in Bankgeschäften aus, und seine Verwaltungstätigkeit war vorbildlich. Seine Familie, die ursprünglich nicht zur oberen Schicht gehörte, hatte durch Yudons Heirat mit dem adeligen Namgyal
Gashi an Bedeutung gewonnen. Paldor arbeitete für seinen Vater; er verfasste dessen Korrespondenz, die in indischer, tibetischer und englischer Sprache geführt wurde. Der junge Mann beherrschte alle drei Sprachen in Wort und Schrift vorzüglich. Longsela hörte zu, fühlte sich auf wunderbare und geheimnisvolle Weise geborgen, wie eine Reisende, die nach langer Wanderung endlich am Ziel ist. Sie verspürte eine heiße, innere Freude, die ihr Leichtigkeit verlieh. In den drei Tagen, die die Gäste im Haus der Weiden verlebten, bei den Picknicks und den Ausritten, hatten sie Zeit, einander besser kennenzulernen. Longsela war Paldor unter glücklichen Umständen ganz unverhofft begegnet. Es war wie eines jener Wunder, an die sie in ihrer Kindheit geglaubt hatte. Sie hatte vergessen, wie schön das war. Sie war aufgeregt wie ein kleines Mädchen, und gleichzeitig von Ruhe erfüllt. Sie wusste, dass Paldor es war, auf den sie schon immer gewartet hatte. Er zeigte diese Mischung aus der früher üblichen Wohlerzogenheit und der frohen Unbekümmertheit der jetzigen jungen Generation. Die Menschen aus Bhutan sahen fast alle gut aus. Longsela betrachtete entzückt Paldors ausdrucksvolles Gesicht, seine leuchtenden Zähne. Sein Haar war dunkelbraun und leicht gelockt, die Stirn hoch, die schmale Nase kühn geschwungen. Der empfindsame Mund stand in Gegensatz zu dem festen, wie gemeißelten Kinn. Seine Augen mit dem sanften, offenen Blick schienen sich zu weigern, das Schlechte auf Erden wahrzunehmen. Das Wort Liebe war endlich in Longselas Herzen und vor allem in ihrem Bewusstsein aufgegangen, wie eine keimende Knospe aufbricht. Longsela sprach von ihrer Leidenschaft, den Edelsteinen, Paldor von seiner Liebe zur Musik. Ja, das war es, was beide faszinierte: die Begeisterung für die schönen Dinge, die ihrem Leben einen Sinn gaben. Musik! Gab es etwas Wunderbareres, als mit Klängen Gefühle in den Herzen zu erwecken? Und die Gemmen mit ihren Farben, die vibrierten und leuchteten, die einzigartig waren und unverwechselbar. Longsela
zeigte Paldor ihre Edelsteine, und tiefes Staunen erfüllte Paldors Augen. Eine Melodie, von ihm auf der Dran-nye gespielt, und Longsela kamen die Tränen. Dann wieder scherzten und neckten sie einander wie Kinder, und wie Kinder bekamen sie nicht genug davon. Sie waren glücklich zusammen, unsagbar glücklich. Alles war so intensiv, so lebhaft geworden, der Gesang der Vögel, das Gelächter glücklicher Menschen, alle Farben des Lebens und die Schattierungen des Lichts. Und dann kam der Abschied - das Lächeln mit Schwermut verhängt, Traurigkeit im Herzen. Paldor zeigte viel Selbstbeherrschung. Es gab nun einmal diesen Standesunterschied. Paldor war stolz und hatte allen Grund, es zu sein. Seine Leidenschaft für Longsela war von Aufrichtigkeit und Uneigennützigkeit geprägt. Doch er war in seinem Handeln eingeschränkt. Jede weitere Initiative musste von ihr ausgehen.
    Nach Paldors Abreise fühlte sich Longsela sehr einsam; ihr fröhliches Lachen erklang seltener, sie wurde melancholisch, und selbst ihre Arbeit mit den Gemmen vermochte sie nicht zu trösten. Das Entferntsein von Paldor ließ ihn in ihrer Erinnerung nur noch strahlender erscheinen. Sie griff zur Feder, schrieb ihm einen ersten Brief. Er schrieb zurück. Einige Monate lang tauschten sie Briefe aus. Es waren sehr schöne, dichterische und sinnliche Briefe, die er schrieb, die schönsten Briefe, die Longsela je erhalten hatte. Sie las diese Briefe immer wieder mit Herzklopfen. Es war eigentlich nie ihre Absicht gewesen, sich so tief aufwühlen zu lassen. Aber nun war es geschehen. Ihre Träume waren von ganz konkreten Sehnsüchten erfüllt. Für Longsela, die bereits erwachsen war, aber sich das Empfinden eines jungen Mädchens bewahrt hatte, webte die Liebe ein ganzes Netz von Gefühlen, löste Freude und Schmerz bis zur Unerträglichkeit in ihr aus. Aber der Respekt, den sie den Eltern schuldete, verbot ihr, sich ihnen anzuvertrauen. In ihrem Inneren regte sich die Angst, dass die Eltern ihr die Zustimmung verweigern könnten. Sie brauchte jemandem,
mit dem sie sprechen konnte, und suchte Trost bei ihrem Bruder Dawa. Obwohl

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