Das Haus der Tibeterin
Bruchteil seines Wertes. Als Tenzin sie nach dem Grund fragte, gab sie mit einem humorvollen Seufzer zur Antwort: »Nun, der Stein verlangte, mit dieser schönen Frau zu gehen. Er wollte von keiner anderen getragen werden. Gegenüber dem Willen der Steine bin ich machtlos!«
Tenzin zeigte dabei ein Lächeln, das keineswegs erstaunt wirkte, denn er war es ja, der sie am besten verstand. In Tibet war der Handel auch in aristokratischen Kreisen nicht verpönt, sogar Tauschgeschäfte waren üblich. Auch Yangzom, die konventionell dachte, nahm bald an dem eigentümlichen Gewerbe ihrer Tochter keinen Anstoß mehr. Im Gegenteil: Sie war stolz, wenn ihr zu Ohren kam, dass Longselas Gemmen ihren Trägern Glück und Wohlstand brachten. Solche Gerüchte kursierten schnell, denn die Tibeter sind - obwohl Buddhisten - sehr abergläubisch. Natürlich waren die anderen Händler eifersüchtig; sie konnten Longselas verrückte Geschäfte nicht begreifen und meinten, sie schade ihrer Gilde. Die aristokratische Dame hatte es ja gar nicht nötig, auf solch exzentrische Weise in deren Gehege einzudringen! Longsela zeigte sich wenig beeindruckt. Alle Mitglieder der Gilden waren reich, weil sie eine Menge verdienten und keine öffentlichen Verpflichtungen hatten. Und als der Abt des nahe gelegenen
Sakya-Klosters eine Statue der mildtätigen Palden Lhamo in Auftrag gab und diese mit Longselas glückbringenden Steinen schmückte, wurde ihr Ruhm unantastbar. Um »Die Dame der Türkise« und ihre wundersame Beziehung zu den Gemmen entstanden in Lhasa Sagen und Lieder. Man erzählte sich, dass, wenn sie zu Pferd über die Berge ritt, die Steine sich aus eigener Kraft aus der Erde hoben, um von ihr gesammelt zu werden wie Blumen. Ein Märchen berichtete davon, dass ein wunderbarer Türkis, blau wie der Himmel, sich in sie verliebte; doch er hatte eine Ader von Malachit in sich, die ihn unvollständig machte. Als die junge Frau diesen Stein verschmähte, verwandelte er sich binnen einer Nacht, wurde dunkelgrün, von einer so seltenen Farbe, dass die Dame, von seiner neuen Schönheit entzückt, ihn als einzigartig für sich selber aufbewahrte und an ihrem Kopfschmuck befestigte.
Eine Zeit lang war Longsela darüber ein wenig verwirrt. Niemand hatte ihr jemals klar und deutlich erzählt, wie solche Geschichten entstanden, nicht einmal ihr Bruder Dawa, den sie zu Rate zog. Der junge Rimpoche erwiderte lachend, sie sei eben eine »Khadroma« - eine dieser Feen, die in den Lüften tanzten. Daran sei nichts zu ändern, ebenso wenig wie an der Tatsache, dass er selbst ein inkarnierter Lama sei. Daraufhin fasste Longsela den Entschluss, sich nicht mehr mit der Frage zu beschäftigen. Sie war keine Außenseiterin, sondern eine lustige junge Frau, die gesellig war, die gern tanzte und an allen Vergnügungen teilnahm.
Longsela war inzwischen dreiundzwanzig und immer noch unverheiratet. Oft kamen Besucher ins Haus, junge Männer des gleichen Adelsstandes. Longsela empfing sie stets liebenswürdig und lachte von Herzen, wenn sie ihr amüsanten Klatsch erzählten. Im Laufe der Jahre machten ihr zwei oder drei von ihnen durch ermächtigte Brautwerberinnen ernst zu nehmende Anträge. Longsela empfand ein gewisses Vergnügen dabei, hatte jedoch ihren eigenen Kopf. Mit einer Leichtigkeit,
die an Leichtfertigkeit grenzte, wies sie alle Bewerber ab. Die Eltern schluckten ihre Enttäuschung und plagten sie nicht mit Vernunftgründen, denn sie hätte ohnehin keine beachtet. Insgeheim aber begannen sie, sich ernstlich Sorgen zu machen. Doch das Schicksal wachte über Longsela und näherte sich ihr mit den kreisenden Sternen.
ZWÖLFTES KAPITEL
E ines Tages im Spätsommer, als der Erntemond schien und zahlreiche Gäste im »Haus der Weiden« erwartet wurden, saß Longsela vor ihrem Spiegel und sah der Friseurin zu, die bereits frühmorgens gekommen war und sich mit ihrem Haar beschäftigte. Die langwierige Prozedur wurde alle zehn Tage durchgeführt. Nach dem Kopfwaschen übergoss die Friseurin Longselas Haar mit heißem Tee, in den duftendes Öl gemischt war. War das Haar trocken, was Stunden in Anspruch nahm, wurde es gekämmt, zu komplizierten Flechten gedreht und mit Schleifen und Schmuckspangen hochgesteckt. Perücken, mit denen früher die vornehmen Damen sogar schliefen, was höchst unangenehm und schädlich für das eigene Haar war, wurden von der jungen Generation nicht mehr getragen. Die Frisur war noch nicht ganz fertig, als Longsela im Garten Musik und
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