Das Haus der Tibeterin
berühmt. Man munkelte, dass sogar Seine Heiligkeit nie eine wichtige Entscheidung traf, ohne ihn zu befragen. Es gab auch Leute, die ein wenig Angst vor ihm hatten. Der Alte wurde mit großer Ehrfurcht empfangen und bewirtet. Gendün Nechun erkundigte sich sehr gewissenhaft nach der astralen und geomantischen Aszendenz der zukünftigen Brautleute. Dann blätterte er mit behutsamen Fingern in einem vergilbten, alten Buch mit seltsamen Bildern, Darstellungen der Kräfte des Planeten und der Gestirne. Danach bat er Longsela und Paldor, beide einigermaßen eingeschüchtert, um kleine Schnippchen ihrer Fingernägel, die er in einem Dreifußofen mit verschiedenen Kräutern verbrennen ließ. Er beobachtete sehr lange und in sich versunken die Flämmchen, wobei er den Rauch tief einatmete. Schließlich lehnte er sich mit einem leichten Seufzer zurück. Alle starrten ihn erschrocken an. Was hatte er vorausgesehen? Großes Unglück? Tod? Nach einer Weile hob er die wässrigen Augen, blickte die Brautleute an, aber es war, als ob er durch sie hindurchblickte.
»Ihr beide werdet sehr glücklich sein. Doch Seltsames und Schreckliches wird sich um euch herum ereignen. Um diesen furchtbaren Dingen zu entgehen, dürft ihr niemals und um keinen Preis zulassen, dass ihr getrennt werdet. Das Haus und die Familie werden nur bestehen, wenn ihr beisammen seid. Lasst es nicht zu, dass ihr auch nur für einen Tag getrennt werdet! Stark seid ihr nur gemeinsam. Lasst auch eure Kinder nie aus den Augen! Denn jede Trennung kann Schmerz bringen, Krankheit und Tod. Das ist alles, was ich euch sagen kann.«
Die Weissagung war höchst sonderbar, denn Mann und Frau hatten oft getrennte Verpflichtungen. Und es war alltäglich, die Kinder in die Obhut der Familie oder der Dienstboten zu geben, die sehr vertrauenswürdig waren in jenen Tagen. Aber trotz dieser Einschränkung war die Weissagung gut. Sie war sogar wunderbar, fanden die Brautleute. Immer beisammen zu sein, was konnten sie sich Schöneres vorstellen?
»Das bedeutet«, sagte Longsela zu Paldor, »dass wir uns wirklich lieben und zusammengehören.«
Beide Elternteile baten den alten Mann, einen günstigen Tag für die Eheschließung auszusuchen, was er auch gern tat. Sie dankten ihm für seinen Segen, entlohnten ihn großzügig und machten ihm viele Geschenke. Dann geleiteten ihn die Diener unter großen Ehrenbezeugungen zum Kloster zurück. Der Heirat stand nun nichts mehr im Weg. Die Eltern gaben die Vermählung am Neujahrstag bekannt, und der Ehevertrag wurde aufgesetzt. Im alten Tibet konnte der Mann mehrere Frauen heiraten - wenn jede ihr eigenes Haus hatte und gerecht behandelt wurde. Der Frau war das Gleiche gestattet - falls zum Bespiel der erste Mann alt war und die Frau sich einen gleichaltrigen Partner wünschte, der besser zu ihr passte. Dies kam oft vor, wenn die Eltern ihre Hand im Spiel hatten und man die junge Frau auf diese Weise entschädigen wollte. Der junge Ehemann hatte dann die gleichen Rechte und Pflichten, und
alle Kinder wuchsen gemeinsam auf. Auch spielte die Erbschaft eine Rolle. In Adelskreisen oder bei den Nomaden bestand noch der Brauch, dass eine Frau nicht nur ihren Mann, sondern gleichzeitig auch dessen Brüder heiratete. So wurde die Erbschaft nicht aufgeteilt und blieb in der Familie. Doch Longselas Erbrecht war längst gesichert: Beim Tod ihrer Eltern würden ihr das Haus, das Gestüt und die angrenzende Meierei zufallen. Es war wichtig, dass die Frau das Haus erbte. Die anderen Lehensgüter wurden unter den Brüdern geteilt. Zusätzlich sollte das Bargeld, das in einer indischen Bank Zinsen trug, an Dawa Rimpoche gehen, der diesen Erbteil dem Kloster zur Verfügung stellen würde. Der Betrag galt als Spende.
Von Anfang an wurde abgemacht, dass Paldor in das Haus seiner Frau ziehen würde. In Tibet ging man stets von dem Grundsatz aus, dass es für eine Frau aus wohlhabender Familie nicht zumutbar sei, sich einfachen Verhältnissen anzupassen. Der Bräutigam war im Allgemeinen einverstanden. So wurde von beiden Elternteilen ein Dokument unterschrieben, das mit Lobpreisung an die Familiengottheit begann - in Longselas Fall stand das Haus unter der Schirmherrschaft der Palden Lhamo, der Göttin der Barmherzigkeit, die man bat, den neuen Lebensabschnitt der Brautleute zu segnen. In dem Schreiben verpflichtete sich Paldor, in das Haus seiner Schwiegereltern zu ziehen, diese zu achten, seiner Freu treu zu sein und die Dienstboten gerecht und freundlich
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