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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Seele. Sie empfand dabei keine angstvolle Beklemmung, sondern versuchte es sich in irgendeiner Weise zu erklären, so wie man sich die Träume zu deuten sucht. Es mochte an den Dzi-Steinen liegen, die sie ihrem Versprechen getreu immer trug und die bewirkten, dass ihr die Ereignisse mit ihrem ungewohnten Stoff zum Nachdenken nach wie vor gegenwärtig waren.
    In dieser Zeit brachte ihre Mutter Yangzom nach vielen unfruchtbaren Jahren einen Jungen zur Welt, dem sie den Namen Thubten gab. Longsela hatte bereits einen älteren Bruder, Dawa. Dieser wurde, als er noch ein Baby war, als Lama-Inkarnation des Sera-Klosters erkannt. Von da an trug er den Ehrentitel Rimpoche und blieb nur in der Familie, bis er sieben Jahre alt war. Dann kam eine Abordnung der Mönche und holte ihn ab, um ihn nach Sera zu bringen. Dawa wusste bereits, dass er ein besonderes Kind war. Er zeigte ein fröhliches, verschmitztes Wesen und weinte auch nicht, als er fortgebracht wurde: Es war ja seine Bestimmung. In den letzten Jahren hatte er schwere metaphysische Prüfungen abzulegen und besuchte die Familie nur noch selten. Umso mehr freuten sich die Eltern über den kleinen Nachzügler. Auch Longsela war glücklich, wieder ein Brüderchen zu haben. Inzwischen machte ihr die Anpassung an fremde Sitten keine Mühe. Die Lehrerinnen lobten Margarets Freundlichkeit und Lernbereitschaft. Man lud sie oft zu Besuchen ein. Dabei lernte sie auch, sich westlich zu kleiden und in jeder Gesellschaft selbstsicher und liebenswürdig aufzutreten. In den Ferien kehrte sie nach Lhasa zurück. Die Reise war nach wie vor beschwerlich und gefährlich, über Bergpässe und Gletschertäler, und man musste auf böse Begegnungen gefasst sein. Aber die Gefolgsleute waren gut bewaffnet, und auf Jo-Jos Rücken fühlte sich
Longsela so sicher wie einst als Kind auf ihrer Mutter Schoß. Und jedes Mal, wenn sie ihren Bruder Thubten wiedersah, war dieser um ein Stück gewachsen! So gingen die Schuljahre vorüber; im Ganzen waren es vier. Danach waren die Eltern der Meinung, dass Longsela über ausreichend Bildung verfügte. Ein längeres Studium lohnte sich nicht, weil Mädchen ohnehin keine Beamten wurden. In Darjeeling hatte Longsela, die inzwischen siebzehn war, fast als einzige Schülerin den Schwerpunkt auf Arithmetik und Physik gelegt. Mineralogie - von Gemmologie ganz zu schweigen - gehörte natürlich nicht zu den Unterrichtsfächern, aber Longsela hatte Bücher bestellt und wurde, da sie recht gut Englisch sprach, bald fähig, sie zu verstehen. Trotzdem war sie glücklich, wieder in Lhasa zu sein. Dass ihre hausfraulichen Fähigkeiten sich auf das Wesentliche beschränkten, störte niemanden, am wenigsten sie selbst. Dienstboten nahmen ihr alle Pflichten von den jugendlichen Schultern. Vater und Mutter hofften natürlich, dass sie bald einen passenden Mann finden würde, aber Longsela hatte keine Eile, und die Eltern zeigten Nachsicht. In ihrer Stellung hätte sie durchaus ein Leben in Muße führen können, doch hat ein Mensch eine Berufung, dann ist es nicht schwer, einen Weg zu finden. Longsela war eine sehr selbstständige junge Frau, die zielstrebig ihren Traum verwirklichte und Juwelenhändlerin wurde.
    Zuerst waren es nur Freunde oder Verwandte, die sie aufsuchten. Doch es sprach sich schnell herum, dass man bei Longsela Gemmen von großer Klarheit und Schönheit fand, und schrittweise gewann sie das Vertrauen ihrer Kunden. Longsela ließ ihre Gemmen bei berühmten Gold- und Silberschmieden zu Schmuck verarbeiten, doch mit gleicher Leidenschaft verkaufte sie auch unverarbeitete Steine. »Jeder muss zu seinem eigenen Schmuck finden«, pflegte sie zu sagen. »Jeder Mensch ist ganz anders. Zwinge ich Kunden meinen Geschmack auf, verfälsche ich ihr ursprüngliches Wesen.« Mit
dieser Gesinnung fesselte sie all jene, die sich Schmucksteine leisten konnten. Die Zahl ihrer Kunden wuchs. Es sprach sich herum, dass man bei ihr nur wertvolle und seltene Gemmen fand. Oft kam es vor, dass Nomaden vor dem »Haus der Weiden« ihre Pferde anhielten und in Ledersäckchen Steine brachten, die sie ausgegraben hatten. Gefielen Longsela die Steine, zahlte sie gut, obwohl sie ebenso hart feilschte wie die Khammo, wenn diese die Märkte besuchten. Für die Kunden war es manchmal eine Qual, unter den wunderbaren Schätzen, die Longsela ihnen vorlegte, ihre Wahl zu treffen. Longsela war eine gute Geschäftsfrau, doch dann und wann überließ sie dem Kunden einen Stein für nur einen

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