Das Haus der Tibeterin
Anwesen kostete viel Geld, Longsela und Paldor hatten ihren Lebensstil eingeschränkt, alle Rennpferde verkauft. Sie hatten nur zwei Maultiere behalten und Sonams Stute Dakini, weil sie es nicht übers Herz brachten, das kleine Mädchen von ihrem Pferd zu trennen. In den Stallungen war jetzt ihr Jeep untergebracht. Yeshe, der Fahrer, bestand darauf, neben dem Wagen zu schlafen. Er war der Einzige, der mit dem Jeep zurechtkam, fühlte sich als sein rechtmäßiger Besitzer und lebte in der ständigen Angst, dass ihm das Fahrzeug geklaut wurde. Die jüngeren Dienstboten waren entlassen worden, der Gärtner war ins Kloster gegangen. Seine Aufgabe hatte Paldor übernommen. Er machte seine Sache sehr gut und hatte Freude daran. Über
Nacht schienen die Dinge unter seinen Händen zu wachsen. Es gab schon lange keine Chang-Mädchen mehr, der Koch nahm seinen Sohn als Gehilfen. Die älteren Dienstboten, darunter Yangzoms Kammerzofe Wangmo, waren Leibeigene und gehörten zur Familie. Yangzoms dicke Beine schmerzten, ihr Rücken schmerzte, ihr Genick schmerzte. Ihr Gedächtnis versagte, aber das Herz war gesund. Sie würde noch einige Jahre leben. Longsela brauchte Geld, um die Mutter im Alter zu versorgen, das Haus instand zu halten, die Kinder zu kleiden, die Leibeigenen zu ernähren. Ihr lebensfroher, leichtsinniger Bruder Thubten hatte seine Ländereien rechtzeitig verkauft und war nach Nepal ausgewandert, wo er sich in wenig erfolgreichen Bankgeschäften versuchte. Longsela fragte ihn gar nicht, ob er ihr Geld geben könnte. Es war Dawa Rimpoche, der sie aus eigener Schatulle unterstützte, doch den Großteil seiner Erbschaft hatte er schon vor Jahren dem Kloster vermacht. Onkel Loten war gestorben, sein Vermögen war an die Töchter gegangen. Paldors Eltern hätten gern geholfen, vermochten es jedoch nicht. Longsela sah sich ganz auf sich allein gestellt. Anfänglich versuchte sie, ihre Unruhe sogar vor Paldor zu verbergen. Sie empfand das Bedürfnis, ihn zu schützen. Äußerlich ertrug er die Dinge mit Gleichmut, aber er sah und empfand alle Unannehmlichkeiten stärker als sie. Er kümmerte sich still um den Garten, pflanzte Gemüse an. Er hatte dort etwas zu tun, was nützlich war. Frisches Obst und Gemüse waren wichtig für die Kinder; auf dem Markt gab es ja nichts mehr zu kaufen. Paldor war mit seinen weichen, gelenkigen Händen fähig, jede Arbeit zu verrichten. Er nähte selbst die Kleider für sich und die Kinder, besserte seine Schuhe und sein Arbeitswerkzeug aus. Trotzdem fühlte sich Paldor als Versager. Longsela begriff, wie sehr ihn das angriff. Er war mit einer natürlichen Güte und Großmut zur Welt gekommen, aber seine Eltern waren nie vermögend gewesen, waren jetzt sogar noch ärmer als früher. Was konnte Longsela machen? Wer trug in
Tibet noch Schmuck? Die chinesischen Offiziersfrauen zeigten Bescheidenheit, verzichteten auf Schminke, kleideten sich zweckmäßig und einheitlich. Tibeterinnen, die sich mit ihrem traditionellen Kopfputz auf die Straße wagten, wurden von den Jungkommunisten angehalten und mahnend gefragt, ob ihr soziales Gewissen es denn zuließ, dass sie ihren Reichtum den hungernden Massen vorführten? Die Juwelenhändler hatten ihre Läden geschlossen, die Gold- und Silberschmiede waren arbeitslos. Longsela und Paldor hofften, dass die Zeit eine Lösung bringen würde. Aber die Zeit verging, und nichts Gutes geschah.
»Wenn wir nicht arbeiten können, müssen wir alles den Chinesen verkaufen, bevor wir verhungern«, sagte Paldor und lachte mit leichtem Erstaunen darüber, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Je unglücklicher er war, desto mehr liebte Longsela ihn und desto mehr Mitgefühl empfand sie für ihn. Es gab nur eine Möglichkeit, wenn sie ihre Finanzen aufbessern wollte: ihre Gemmen nach Indien zu bringen. Tibet war bankrott, aber Indien war unabhängig geworden. Ja, in Indien floss das große Geld. Indien war voller reicher Leute, und alle kauften Schmuck.
Longsela sagte zu Paldor: »Wer weiß, ob wir im nächsten Jahr noch reisen können? Du hast ja Baba Rajendras Brief gelesen. Er ist dabei, ein Vermögen zu verdienen.«
Baba Rajendra war ein äußerst schlauer Juwelenhändler aus Darjeeling. Ein liebenswerter Gauner, der eine Schwäche für Longsela hatte und sie nur maßvoll bemogelte. Sie kannten sich seit Jahren. Baba Rajendra sprach Urdu, Englisch und einige Brocken Chinesisch und lachte mit dunklem Bronzeton, während er die Steine durch seine kundigen
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