Das Haus der Tibeterin
sie hinweg, bevor sie ihre Antwort an die Eltern richtete.
»Kein Mensch auf Erden ist so gut, wie der Heilige Buddha es war. Ihm können wir vertrauen. Das ist nicht das Gleiche, als wenn ein Mensch uns sagt, was richtig und was falsch ist. Der Heilige Buddha droht jedenfalls nicht, und kein Tibeter musste ihn jemals fürchten. Buddha spricht zu allen Menschen, Mao Tse-tung nur zu den Chinesen.«
Da sah Kelsang rasch auf. Ein kleines Lächeln verlieh seinem hübschen Gesicht einen Ausdruck von Überlegenheit. Doch er sagte nichts, bedankte sich nur höflich für den Krapfen, den ihm die »Mola« - die Großmutter - eigenhändig auf den Teller legte.
»Iss nicht zu viel, sonst wirst du fett«, sagte Sonam zu ihm.
»Ach, er muss doch groß und stark werden«, meinte Yangzom nachsichtig. Es blieben kaum noch Krapfen übrig, Kelsang hatte die meisten verschlungen. Als die Mola gerade nicht hinsah, bedachte er Sonam mit einer Grimasse, worauf Sonam ihm unter dem Tisch einen Fußtritt verpasste.
»Vielfraß!«, zischte sie. »Dickwanst!«
Kelsang aß gierig weiter, während Sonam ihn mit ihren schwarzen Augen verächtlich im Blick behielt. Die Jüngsten stritten sich häufig, schlimmer als früher, behauptete Lhamo. Aber wenn es sein musste, hielten sie fest zusammen. Longsela klagte oft, dass sie gegen beide nicht ankam.
Nach den Ferien kehrte Lhamo nach Peking zurück. Sie wollte ihr zweites Schuljahr zu Ende bringen. Sie wurde kritischer, weil sie viele Dinge durchschaute und suspekt fand. Sie schrieb es den Eltern. Ihre Briefe kamen nicht an. Zensur. Das war neu. Früher konnte Lhamo rückhaltlos über alles berichten. Der Argwohn, den Longsela bewusst zu unterdrücken versuchte, war hartnäckig da, kehrte ständig wieder und quälte sie. In Lhasa selbst wurde über die Kommunistische Partei niemals öffentlich diskutiert. Die Chinesen meinten, die Tibeter seien noch nicht loyal genug. Das wirkte sehr kränkend, weil die Chinesen auf diese Weise zeigten, dass sie mehr wert waren.
Etwa in dieser Zeit begann auch Ling, der Freundin Dinge anzuvertrauen, die sie früher für sich behalten hätte. Die harte Kruste, mit der das Pflichtbewusstsein ihre Gedanken überzog, erschwerte es ihr beinahe schmerzhaft, sich in Worten auszudrücken.
»Wahrscheinlich ist es nichts Schlimmes. Aber kürzlich hat Mao Tse-tung die führenden Funktionsträger der Partei beauftragt, ihre Meinung über die kommunistische Verwaltung abzugeben. Er fragte: ›Was können wir besser machen? Sagen Sie es nur, wir sind zu allem bereit!‹ Die Befragten haben gesagt: ›Da sind noch viele schlechte Dinge‹, und sie die Regierung wissen lassen. Daraufhin wurden alle, die die Partei kritisiert hatten, mit ihren Familien verhaftet und in Lager gebracht.«
Wie groß war die Betroffenheit Longselas, als sie davon hörte! Sie hatte eine hohe Meinung von Mao Tse-tung, der China vom Leid vieler Jahrhunderte erlöst hatte. Verdiente sein großer Plan nicht Respekt und Bewunderung?
»… sogar die Kinder …« Ling sprach, als ob sie nicht gehört werden wollte. Ihre Stimme klang neutral, fremd und irgendwie verschlossen.
»Alle wurden geschlagen und misshandelt. Ja, auch die Kinder, bis die Eltern ihre Schuld bekannten und das, was sie gesagt hatten, für unwahr und abscheulich erklärten.«
Nach kurzem Schweigen sagte Longsela matt: »Es ist sehr schwer für mich, das zu glauben.«
Ling tastete nach ihrem Strickzeug. Longsela fiel auf, dass ihre Hände leicht zitterten.
»Es ist auch kaum zu glauben. Aber zu dir und zu mir will ich ehrlich sein.«
Ling spürte zu viel von der institutionellen Gefühllosigkeit, von der verlogenen Stille. Es war das Zuviel des Nicht-Menschlichen, was sie anwiderte. Aber Ling wollte weiterhin tapfer zur Partei halten. Ihr Kinn hob sich, wenn auch nur ein wenig.
»Ich gestehe, der Vorgang erscheint mir scheußlich und verlogen. Aber vielleicht ist er notwendig. Ich muss mich da abhärten.«
Longsela war sehr aufgebracht.
»Es erschüttert mich, wenn gute Absichten zu bösen Zwecken missbraucht werden! Das Volk muss doch wissen, woran es ist.«
Ling rieb sich die entzündeten Augen.
»Unsere Regierung baut darauf, dass wir willig und froh für sie arbeiten. Aber die Leute haben Furcht vor ihrem eigenen Glück. Und wenn sie plötzlich anfangen zu zweifeln …«
Also durfte es in China nur eine Meinung geben. Longsela, die neutral sein wollte, quälte sich.
»Ist dir eigentlich klar, was da vor sich geht,
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