Das Haus der Tibeterin
Ling? Dass jetzt alle verpflichtet sind, das Gleiche zu denken?«
Ling sah Longsela in die Augen und konnte keine Spur von Verständnis darin entdecken. Hektisch ließ sie die Stricknadeln klappern. Sie trug einen Pullover von undefinierbarem Grau. Selbst gestrickt, natürlich. Ihr Haar war ungepflegt und schlecht geschnitten. Sie schien sich für das, was sie gesagt hatte, zu schämen, denn jetzt sprach sie wieder sanft und versöhnlich.
»Der Große Steuermann baut ein neues Land. Dazu braucht er identische Meinungen. Sollen wir die Jungkommunisten als Störenfriede sehen, wenn sie alte Sitten und verkrustete Ideen bekämpfen? Natürlich kann man dabei denken, dass jene, die es gut machen wollen, zu sehr ins andere Extrem fallen. Aber das ist nur eine Phase. Sei doch ein bisschen gutwillig! Verstehst du? Irgendwie, irgendwann werden sich die Dinge zum Besseren wenden.«
Ling war mit allem einverstanden, wenn es sich in den Grenzen der Gerechtigkeit hielt. Sie wäre jeder Partei anheimgefallen, die sich von ihrer besten Seite gezeigt hätte. Dass Ling zu allem Ja sagte, was in China geschah, war, mehr noch als
eine Notwendigkeit, ein Bedürfnis, sich in einem Horizont zurechtzufinden, der ihr fremd wurde. So sagte sie eben Ja. Aber doch nicht ganz. Ihr Glaube an die Menschheit, ihr redlicher Idealismus, wurde allmählich erschüttert.
Es wurde also gemaßregelt, und täglich etwas strenger. Die Jungkommunisten erwiesen sich als intolerant und fanatisch, zeigten Hass gegen die, die sich nicht einfügen wollten. Der »Große Steuermann« und seine Frau Jiang Qing schufen dabei eine lebhafte, mitreißende Atmosphäre, die allen eine strahlende Zukunft verhieß. Auch die Tibeter spürten den wachsenden Druck jener geistigen Tyrannei, die Terror im Namen der Gerechtigkeit verbreitete. Lhasa war plötzlich voll von chinesischen Soldaten und einheitlich gekleideten Jugendgruppen, die unter dem roten, goldbesternten Banner mit Trommeln, hochgereckten Fäusten und Sprechchören durch die Straßen zogen. Zwar konnte man in Lhasa noch in Ruhe leben, aber viele befürchteten, der Krieg könne auch auf die Hauptstadt übergreifen. Böse Nachrichten kamen nämlich aus den Ostprovinzen, wo die Nomaden mit den chinesischen Besatzungstruppen in erbitterte Guerillakämpfe verwickelt waren. Die Volksarmee brachte unentwegt Verstärkung über die Grenze. Die Soldaten waren meistens sehr jung, manche noch halbe Kinder. Man hatte sie ihren Eltern fortgenommen und gezwungen, in den Krieg zu ziehen. Junge Soldaten gehorchten gut und zeigten viel Mut, weil sie die Gefahr unterschätzten. Die meisten Toten oder schwer Verwundeten fand man unter den Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen. Sie waren den Reiternomaden nicht gewachsen. Die Khampa waren Menschen der Berge und der Hochtäler und in ihrem Land eindeutig die Stärkeren. Aber je mehr sich die Khampa zu Wehr setzten, desto grausamer gingen die Chinesen gegen sie vor, zerstörten Städte und Klöster, sodass viele Familien angsterfüllt nach Lhasa strömten, wodurch die Nahrungsmittel knapp wurden. Was mag aus Kanam und Tesla geworden sein?, fragte sich Longsela oft. Waren sie überhaupt
noch am Leben? Und Alo, ihr Sohn, der inzwischen ein junger Mann war - kämpfte auch er gegen die Chinesen? Die Khampa waren ein sehr eigenwilliger Menschenschlag. Gewiss würden sie ihre Lebensart im neuen Tibet nicht weiter beibehalten können. Longsela hörte viele entsetzliche Geschichten. Sie hatte dabei Gedanken, die sie den Wongs nicht anvertrauen wollte. Es gibt keine größeren Narren in der Welt als Idealisten, dachte Longsela. Man wurde erst gescheit, wenn man verglich. Die Chinesen hatten so viele schöne Versprechen gemacht! Und jetzt war es, als ob man ein Schatzkästchen mit freudiger Erwartung öffnete und darin nur Ungeziefer und Skorpione fand.
Der Weg zur Türkismine war Longsela versperrt; sie lag mitten im Kriegsgebiet. Aber Longsela besaß noch einige schöne Steine. Ja, vielleicht waren es die Türkise, die Gefahren und Krankheiten von ihr fernhielten. Die Türkise brachten ihr innere Ruhe, sorgten dafür, dass ihr empfindsames Gemüt nicht allzu anfällig für Stimmungsschwankungen war. Hielt sie eine ihrer wunderbar polierten Gemmen in den Händen, akzeptierte sie die Entwicklungen, die sich um sie herum vollzogen, fühlte Zuversicht und Kraft. Es machte sie traurig, dass sie ihre Steine verkaufen musste. Es ging nicht anders. Die Familie befand sich in finanzieller Not. Das
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