Das Haus der Tibeterin
Kuomintang-Beamte gewesen, die ihre Strafe abbüßten, hatte man ihnen erklärt. Dechen hatte den Sträflingen Tee und etwas zu essen gebracht und war über ihren Zustand entsetzt.
»Diese armen Menschen waren es überhaupt nicht gewohnt, solche Arbeit zu verrichten! Sie hatten eiternde Wunden unter ihren Eisenketten. Einige waren schwer krank. Sie mussten trotzdem arbeiten. Sie bedankten sich sehr höflich bei mir. Sie hatten sich noch einen Rest von Würde bewahrt und schämten sich, dass wir sie in diesem schrecklichen Zustand erlebten.«
Dorje nickte mit düsterem Ausdruck.
»Ja, wir waren sehr erschüttert. Sind die Chinesen derart brutal zu ihren eigenen Landsleuten, werden sie auch mit uns kein Mitleid zeigen.«
Longsela, die bei jeder Gelegenheit die größte Höflichkeit bewahrte, hörte sich zu ihrer eigenen Überraschung widersprechen.
»Ach, Beamte! Man weiß doch, wie korrupt die waren. Es gab so viele Ungerechtigkeiten in China.«
Noch während sie antwortete, erschrak Longsela und dachte bei sich selbst: Jetzt rede ich genauso wie Ling!
Konnte es sein, dass sie bereits unter dem gleichen Einfluss stand? Oder war es nur ein Versuch, sich selbst zu beruhigen? In ihrer feinfühligen Art war Dechen Longselas Verwirrung nicht entgangen. Sie machte ein zustimmendes Zeichen.
»Ja, vielleicht haben sie ihre Strafe tatsächlich verdient. Aber ich sehe sehr ungern grausame Dinge. Sie schmerzen mich desto mehr, je intensiver ich mich mit unseren religiösen Büchern befasse, mit der Ursache des Leides und dem Weg, der zur Beendigung des Leides führt. Ich mache mir beim Lesen viele Notizen.«
»Vielleicht sollte ich auch diese Bücher lesen«, sagte Longsela
in dieser Nacht zu Paldor, als sie in der Beuge seines Armes lag. »Ich sehe die Dinge nicht mehr klar. Ich bin eine alte Frau.«
Paldor strich zärtlich über ihren schmalen Bauch. Sie hatten sich der Liebe überlassen und dann im weichen Wasser aus den Tonkrügen erfrischt, die im Baderaum nebenan für sie bereitstanden. Nun lagen sie eng umschlungen, genossen die satte Wärme ihrer Haut. Paldor streichelte Longselas Lippen mit der Zungenspitze.
»Du bist jung«, sagte er, »und wirst es immer bleiben.«
»Auch wenn ich so dick wie meine Mutter werde?«
Paldor lachte sehr.
»Das wird nie passieren. Du isst viel zu wenig!«
Longsela lächelte auch, bevor sie wieder ernst wurde.
»Paldor, was deine Eltern gesagt haben, geht mir nicht aus dem Kopf. Woher mag es kommen, dass ich Ling und An Yao vertraue und gleichzeitig Angst vor den Chinesen habe?«
Diese Angst ergriff sie ohne eigentlichen Grund, aber stark und regelmäßig und nachhaltig. Sie war nie von ihr gewichen; Longsela hatte sich nur besser daran gewöhnt, als ob sie chronisch geworden wäre. Sie mochte dieses Gefühl bei sich nicht.
»Ich glaube nicht«, erwiderte Paldor, »dass wir die Chinesen wirklich verstehen können. Sie sehen sich als Opfer einer verdorbenen Gesellschaft. Ihr politisches System hat viel Gutes gebracht; sie sind nicht gewillt, irgendeine Kritik einzustecken. Und weil sie viel Pflichtbewusstsein haben, zählt bei ihnen nicht die Meinung des Einzelnen, sondern die Meinung der Allgemeinheit. Leute, die nicht mitmachen, gehören zur Klasse der Bourgeoisie, die diese Meinung möglicherweise nicht teilt und die Volksdiktatur gefährdet, die etwas Großes ist. Die Regierung kann das Risiko nicht auf sich nehmen.«
Sie schwieg so lange, dass er sie fester an sich zog.
»Sag mir etwas, irgendetwas …«
»Paldor«, flüsterte sie.
»Longsela, hör zu. Auch im Neuen China gibt es Leute, die sich lieben …«
Sie schmiegte ihr Gesicht an seines, und so blieb sie lange liegen, bevor sie erneut das Schweigen brach. Dabei schimmerte ihr Blick kindlich und etwas verloren.
»Buddha war gut zu uns, dass wir uns gefunden haben. Wir konnten noch glücklich sein.«
Er beruhigte sie.
»Wir sind doch glücklich.«
»Sei still«, hauchte sie.
Er sah ihr vom Mond erhelltes Gesicht. Sie lächelte ein wenig schmerzlich.
»Was verlangst du mehr?«, fragte er.
Sie antwortete leise.
»Noch etwas Zeit. Nur noch ganz wenig Zeit.«
»Buddha ist barmherzig«, sagte Paldor mit sanfter Betonung, fast als spräche er zu einem Kind. »Ein wenig Zeit wird er uns noch schenken …«
ACHTZEHNTES KAPITEL
D ie paar erholsamen Tage im Haus der Schwiegereltern waren schnell vorüber. Jetzt kam der beschwerliche Teil der Reise. Yeshe hatte Maultiere gemietet, eine Karawane gefunden, der
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