Das Haus der Tibeterin
und nicht auszusprechen wagte. Rasch legte er seinen Finger auf Longselas Mund. Und beide verharrten in einer Art Lähmung, als ob sie bereits den verlorenen Dingen nachtrauerten, als ob eine tickende Uhr ihr Leben davontrug. Sie hatten sich intensiver geliebt als die vielen, die nie einen Traum gehabt, die nie erfahren hatten, wofür sie lebten. Aber die Jahre waren Schritte, die das Schicksal maß. Paldor und Longsela bettelten vergeblich um noch ein paar Augenblicke. Die Erfüllung, die ihnen das Leben gewährte, zu verlängern schickte sich nicht. Ihr Leben, ihr einziges, unwiederholbares Leben, verschwand bereits in den Abgründen einer Zeit, die unaufhörlich dahinglitt, die hauchdünn und durchsichtig war, und ohne Gnade.
Mitten in der Nacht gab es dann einen Punkt, an dem Longselas innerstes Ich, gestaltlos und unmessbar, die Zukunft sah. Sie erwachte bald danach, schweißgebadet, Hände und Füße gefühllos, wie gelähmt. Als sie sich nach einer Weile wieder bewegen konnte, beugte sie sich über Paldor und berührte ihn sanft an der Schulter. Er erwachte sofort. Sie sah das Weiße seiner Augäpfel im Dunklen schimmern und sagte mit fester Stimme: »Paldor, ich habe Angst um dich. Ich reise mit dir!«
ZWANZIGSTES KAPITEL
A uf dem Flugplatz wehte ein kühler Wind, trug das würzige Aroma der Wälder und Teeplantagen über das Rollfeld. Das Areal war gerade groß genug, um zwei oder drei kleinere Maschinen aufzunehmen. Das Tor einer Flugzeughalle stand offen, einige Mechaniker kamen heraus. Sie hatten Overalls an, die einmal blau gewesen, doch nun schwarz von Motoröl waren und nach Benzin rochen. Einige hundert Meter von der Piste entfernt befand sich die Flugverwaltung, ein flaches Gebäude, auf dessen Veranda die Beamten zwei Tische aufgestellt hatten. Hier wurden Pässe und Gepäck gleichzeitig kontrolliert. Die indischen Beamten, große, dunkle Menschen in marineblauen Hosen und sauberen weißen Hemden, dufteten nach würzigem Rasierwasser und machten ihre Sache sehr gewissenhaft. Die DC-3 stand in Richtung der Hügel, die schon von gelbem Licht umflossen waren. Ein Mechaniker stieg in die Kabine, zwei andere hängten sich an die Propellerflügel und warfen den Motor an, um ihn zu erwärmen.
Longsela blickte auf den schimmernden, grünen Flugzeugrumpf. Man hatte den Treibstofftank soeben aufgefüllt. Arbeiter mit schmierigen Turbanen und nackten Beinen schafften die Ladung an Bord, wo sie mit Seilen gesichert wurde.
Der Pilot kam, um Longsela und Paldor zu begrüßen. Kiran Seth war ein nonchalanter Mann, nicht mehr jung, mit krausem Haar und einem gepflegten Schnurrbart über den harten Lippen.
»Zu viel Ballast«, meinte er, und seine Stimme drückte berechtigten
Missmut aus. »Das Flugzeug ist schwer in die Höhe zu bringen. Jeder vernünftige Mensch würde davor zurückschrecken, so zu fliegen. Mir macht es nichts, weil ich ein Teufelskerl bin!«
Er grinste Longsela mit prächtig weißen Zähnen an, wobei er ihr Glutaugen machte. Der zweite Pilot kam auch. Lee Sheng war ein unscheinbarer Mann, der freundlich und umsichtig wirkte und Paldor kurz die Hand schüttelte, bevor er sich an Kiran Seth wandte.
»Ich habe den Wetterbericht, Sir. Die Sicht über Lhasa ist klar. Ab morgen soll es wolkig werden.«
Kiran Seths Lächeln verschwand ebenso blitzartig, wie es gekommen war.
»Dann ist es höchste Zeit, dass wir fliegen. Lhasa mag ich gar nicht. Meine Frau erwartet mich morgen zum Abendessen zurück. Schließt sich die Wolkendecke, sitzen wir fest, Gott weiß, für wie lange! Das Warten macht jeden Piloten kaputt.«
Verspätungen von mehreren Stunden waren das Übliche und zehrten an den Nerven des Flugpersonals. Die Piloten waren reizbar und übermüdet, tranken und rauchten viel. Lee Sheng, der schon nikotingelbe Finger hatte, sagte zu Paldor: »Wir sind seit fünf Tagen im Dienst und immer vom Wetter abhängig. Vergangene Woche waren wir viermal in Kalimpong und dreimal in Patna. Und jetzt fliegen wir als Zugabe noch einmal nach Lhasa und zurück.«
Die Passagiere warteten abseits; drei indische Ingenieure, ihre chinesischen Kollegen, ein Mechaniker und zwei chinesische Geometer, die nervös eine Zigarette nach der anderen rauchten und aus Platzmangel während der Reise am Boden sitzen würden.
Die Propeller drehten sich noch immer. Der Mechaniker, der sich an Bord befand, stellte den Motor ab und sprang zu Boden. Inzwischen war die Ladung verstaut. Die Arbeiter verließen die Landepiste,
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