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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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und gerade, als Kiran Seth argwöhnisch
»Haben sie nichts vergessen?« brummte, stürzte ihnen der chinesische Flugleiter, der die Begleitpapiere brachte, aufgeregt entgegen.
    »Einen Augenblick noch, einen Augenblick bitte!«
    »Wir müssen los«, sagte der Pilot ungeduldig. Doch er schaute den Flugleiter nicht gleich an, sondern sah auf die drei hochgewachsenen Chinesen, die ihm mit ruhigen, sicheren Schritten folgten. Bei ihrem Erscheinen fuhr der junge Copilot leicht zusammen, ließ seine Zigarette fallen und drückte sie mit der Schuhspitze hastig in die Erde.
    »Es tut mir leid«, keuchte der Flugleiter, ein schmächtiger Mann, der den Eindruck machte, als wollte er sich am liebsten verkriechen. »Ich habe den Befehl, für den Polizeikommandanten Huang Weichi und seine Begleiter drei Plätze frei zu machen.«
    Daraufhin entstand unter den indischen Ingenieuren ein Gemurmel, leise und erbost. Chinesische Agenten hielten sich permanent in Darjeeling auf, hatten ihr eigenes Büro und ihre eigene Funkstation. Sie benahmen sich, als gäbe es nichts, das ihren Ansprüchen genügte. Die Inder hatten es satt, sich von diesen Leuten alles gefallen zu lassen. Kiran Seth nickte mit verächtlich verzogenem Mund.
    »Dann bringen Sie die Sache in Ordnung. Aber beeilen Sie sich!«
    Während der Flugleiter schwitzte, stand der Kommandant abseits, hielt die Hände, die in Lederhandschuhen steckten, auf dem Rücken und besah sich die Landschaft, als ob ihn das Ganze nichts anginge. Chinesen in hoher Stellung sind oft drahtig und finster; dieser war ein außerordentlich schöner Mann, mit feinen Gesichtszügen und einer weichgelben, glatten Haut. Er trug eine Uniform, eindeutig maßgeschneidert. Ein Offiziersmantel hing nachlässig über seinen breiten Schultern. Seine Erscheinung löste in Longsela ein heftiges inneres Zittern aus. Ein eisiges Gefühl schlich sich in ihr Herz, ein Gefühl
der Furcht vor einem menschlichen Wesen, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Gleichzeitig fiel ihr auf, dass keiner der anderen Chinesen ihn anzublicken wagte, dass alle beflissen an ihm vorbei oder auf den Boden starrten. Es war offenbar, dass alle ihn fürchteten, denn zwei chinesische Ingenieure erklärten sich sofort bereit, den nächsten Flug zu nehmen. Der Kommandant zeigte den Gleichmut eines Mannes, der nur einen einzigen Platz kennt: den ersten in jeder Lebenslage. Er behandelte seine beiden Landsleute, als existierten sie gar nicht, hatte nicht einmal einen Blick für sie übrig. Der magere kleine Flugleiter wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    »Wir haben jetzt zwei Sitze. Wir brauchen noch einen!«
    In seinen nervösen Augen, auf Paldor gerichtet, flackerte eine stumme, erbärmliche Bitte. Er hatte Geld von Baba Rajendra erhalten und es längst ausgegeben. Longsela sah diesen Blick. Die kriecherische Gestalt mit ihrer Panik und ihrem schlechten Gewissen erfüllte sie mit Abscheu. Und gleichzeitig ergriff sie ein Vorgefühl, als ob jemand von Unglück sprechen würde und sie selbst bereits wusste, dass es eintreten würde. Inzwischen wandte sich Paldor ihr zu.
    »Longsela!«, sagte er sanft.
    Seine Stimme besaß den Klang der Bitte, und Longsela las auf seinen Gesichtszügen die Furcht vor dem anrückenden Schicksal. Ihm selbst blieb keine Wahl: Dem Schicksal musste er sich stellen. Doch alles, was ehrenhaft und liebevoll in ihm war, weigerte sich, Longsela Gefahren auszusetzen, die unheimlich und unvorhersehbar aus dem Zeitverlauf geboren wurden. Und weil er Angst hatte und weil er sie anflehte, senkte Longsela bejahend den Kopf, zitternd, seinem Blick ausweichend, während Paldor bereits zu dem Chinesen sagte: »Meine Frau war krank. Sie fühlt sich noch nicht ganz wohl und möchte lieber auf den Flug verzichten.«
    Huang Weichi nickte Longsela kurz zu, sein Dank war die reinste Unverschämtheit. Er hob flüchtig die Hand, gab seinen
Begleitern ein Zeichen. Mit blank polierten Stiefeln stapften die drei Männer der Maschine entgegen. Longsela wandte Paldor mit einer heftigen Bewegung den Rücken zu. Das Schicksal sollte ihn vergessen, seinen Zorn gegen einen anderen kehren. Sie tat nicht nur so, sie empfand es zutiefst, mit klopfendem Puls und fliegendem Atem. Sie war in diesem Augenblick nicht anders als jede tibetische Nomadenfrau, die die Geister und Dämonen, Beschwörungen und Riten kannte und voller Angst die Drohung abwenden musste, die gegen den Geliebten gerichtet war. Im Gedanken an die Kinder wäre Paldor nicht

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