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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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nicht erkennen, war sich jedoch sicher, dass es golden wie das Feuer und schrecklich und schön war. Hinter ihm leuchtete der Himmel, überall rot, und von allen Seiten gleichzeitig strömte die Sonne, tauchte sein Haar in goldenes Licht. Der schlagende Flügel, den sie zu sehen glaubte, mochte ein wehender Mantel sein. Er schien zu sprechen, er sprach, aber nicht in einer Sprache, die Longsela verstand. Aber das hatte überhaupt keine Bedeutung mehr. Der Engel stand vor ihr, ein Wesen aus Licht, und hielt, wie die Kampfgottheiten auf alten Rollbildern, ein Schwert in der Hand. Da lächelte sie ihn an, voller Frieden und Dankbarkeit; sie lächelte diesen Engel an, bevor ihr die Sinne schwanden und sie in eine tiefe, erlösende Ohnmacht fiel.

VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
    D as Erste, was zurückkam, war ein Gesicht, vom Licht einer Kerze seitwärts beleuchtet. Longselas Lider waren mit Eiter verklebt, sie sah dieses Gesicht nur in Umrissen. Gelegentlich wurde ein Auge sichtbar, dann eine Wange, dann die Stirn. Hände nahmen sich behutsam ihrer an, legten nasse Tücher auf ihre entzündeten Augen. Eine Stimme, die sie von früher kannte, sprach sanfte Worte zu ihr. Ein Gefäß berührte ihre Lippen.
    »Trink langsam, meine Tochter«, sagte die vertraute Stimme.
    Longsela trank; das Wasser brannte in ihrer Kehle, doch nach einer Weile fühlte sie sich besser. Sie fiel zurück und wurde erneut von Wolken der Dunkelheit verschluckt. Zeit verging, und unmerklich lichtete sich die Finsternis. Longsela erwachte in kürzeren Abständen, sah das Antlitz festere Konturen annehmen. Ein Gefühl froher Leichtigkeit durchdrang die Dunkelheit um sie her - jene Dunkelheit, in der sie zuvor die Macht der Angst heimgesucht hatte. Ihr Körper fühlte sich frisch an. Man hatte sie gewaschen, gekämmt, ihre Kleider gewechselt, sie mit Tsampa-Brei genährt, jeden Tag einige Löffel mehr. Eines Morgens sahen ihre entzündeten Augen wieder klar. Das Antlitz, das kam und ging, nahm die scharfen Umrisse der Wirklichkeit an. Es war ein altes, freundliches Gesicht, abgezehrt, und doch nicht ohne Schönheit, denn die Knochen waren edel und fein geformt. Longsela betrachtete aufmerksam dieses Gesicht, bis sie endlich einen Namen aussprach.

    »Ani Yudrön!«
    Über die strichdünnen Lippen wanderte ein Lächeln, bis hin zu dem Blick, der plötzlich hell aufleuchtete.
    »Wie kommt es, dass du mich gleich erkannt hast?«
    »Deine Stimme, Ehrwürdige«, flüsterte Longsela.
    Sie zeigte ein strahlendes Lächeln.
    »Ach, hättest du mich früher gehört! Da waren alle von meiner Stimme entzückt! Nun, singen kann ich nicht mehr, aber beten, das wohl! Kauen könnte ich auch, obwohl mir Zähne fehlen. Aber es gibt ja nur Brei, löffelweise.«
    Longsela erwiderte matt ihr Lächeln.
    »Yeshe, wie geht es ihm?«
    »Yeshe wird sich erholen. Er ist ja so viel jünger als ich.«
    »Und die anderen?«
    Ihr schelmischer Ausdruck verschwand. Sie seufzte.
    »Manche, die du gekannt hast, leben nicht mehr.«
    »Eigentlich habe ich sie nicht richtig gekannt«, murmelte Longsela. »Ich konnte sie ja kaum sehen.«
    Ani Yudrön drückte ihre Hand.
    »Doch. Du hast sie mit dem Herzen gekannt.«
    Longsela dachte über die Worte nach, bevor sie zögernd fragte: »Und was ist mit dem Engel, der uns befreite?«
    Jetzt lachte die Nonne herzlich.
    »Wen meinst du? Kanam? Nun, dass er ein Engel ist, kann man wohl nicht sagen.«
    Longsela fuhr leicht zusammen.
    »Kanam? Ich … ich glaube, dass ich ihm vor langer Zeit begegnet bin. Aber er wird mich gewiss nicht erkennen.«
    Ani Yudrön schüttelte den Kopf.
    »Da irrst du dich. Kanam vergisst nie ein Gesicht.«
    Longsela schlief ein paar Stunden. Es war ein guter, belebender Schlaf, nicht das dumpfe Hindämmern wie zuvor. In regelmäßigen Abständen kam Ani Yudrön, pflegte und wusch sie, brachte Tsampa-Brei, zunächst in kleinen Mengen, später
mit einigen Stückchen Fleisch. Dazu Tee, so viel Tee, wie sie wollte. Longsela kam das Essen so seltsam vor, ebenso seltsam wie das Trinken, das Liegen, das Atmen. Allmählich nahm sie auch ihre Umgebung wahr. Sie lag auf Decken in einem niedrigen Raum, aber die Luft war nicht stickig wie zuvor, weil ein leichter Durchzug wehte. Tagsüber fiel Licht durch irgendwelche Löcher, nachts sah sie die Sterne flackern. Dann und wann erschütterten schwere Schritte den Boden. In der Nähe waren Männer, die sprachen.
    »Was ist da draußen?«, fragte sie Ani Yudrön.
    Die Nonne antwortete

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