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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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heiter.
    »Leute. Sei ruhig, du bist vollkommen in Sicherheit.«
    Auch in der Nacht waren nahe und vielfältige Geräusche zu hören: Husten, Schnarchen, Knurren und Seufzer verbanden sich miteinander zu einem gleichmäßigen, unaufhörlichen tiefen Ton. Eine Zeit lang fragte sich Longsela, ob es vielleicht nur ein Nachklang ihrer Gefangenschaft war, bis sie begriff, dass sie im vorderen Teil des Lastwagens lag, unter der Plane. Und dass nachts auch eine Anzahl Männer dort schliefen. Doch man hatte eine Decke über eine Leine geworfen, sodass Longsela getrennt von den anderen unbelästigt ruhen konnte.
    Irgendwann schleppte sich auch Yeshe zu ihr. Sie erschrak bei seinem Anblick. Der alte Mann, entsetzlich abgemagert, hielt sich so still und starr, dass er in dem Flämmchen der Kerze, die Ani Yudrön gebracht hatte, fast unsichtbar wurde, als wäre er ein Teil der Wand. Auch sein klagendes Flüstern war kaum hörbar.
    »Warum haben sie nicht mich erschossen? Warum Telsen? Er war noch so jung! Warum müssen die Jungen sterben und die alten Wracks wie ich übrig bleiben? Es ist ungerecht, Herrin! Ich verstehe das nicht.«
    Longsela hielt seine dünnen, braunen Hände fest.
    »Ach, Yeshe, auch ich verstehe nichts von diesen Dingen. Vielleicht war er zu gut, zu freundlich für die Welt hier unten.
Das ist ein Gedanke, den ich oft habe. Er starb, ohne auch nur im Geringsten den Hass zu kennen, den du und ich zu bekämpfen haben.«
    Yeshe schüttelte stumm den Kopf, bevor er in krampfhaftes Schluchzen ausbrach. Longsela nahm ihn in die Arme, und beide beweinten den sinnlosen Tod des guten, tapferen Telsen. Dann entfernte sich Yeshe, und sie schlief wieder ein. Sie erwachte, als sie Schritte hörte, die sich näherten. Die Decke wurde zurückgeschlagen, ein Mann von hoher Gestalt bückte sich neben ihr, ließ sich an ihrem Lager nieder. Der Geruch, der ihn umgab, ließ Longsela erschauern. Es war ein Geruch nach Holzkohle, Lammfett und Wacholderrauch, eindringlich und ölig und intensiv, der sie an früher erinnerte. Ein Geruch aus der Welt der Steppen und Salzseen, ein Geruch jenseits der Träume und Erinnerungen. Der Mann war in einen schwarzen Umhang gehüllt. Im Licht, das durch den offenen Spalt fiel, sah sie sein Gesicht, das Staub und Sonne, Strapazen und Müdigkeit mit tiefen Linien gezeichnet hatten: hohe Wangenknochen, ein gebrochenes, schlecht zusammengewachsenes Nasenbein, große, braune Augen mit starken Wimpern. Ja, sie kannte dieses Gesicht. Es war ihr vor langer Zeit, in einem anderen Leben begegnet. Sie richtete sich auf dem Ellbogen auf, und er betrachtete sie eine Weile still, bevor er als Erster das Schweigen brach.
    »Man sagte mir, dass du wieder bei Kräften bist.«
    Seine Stimme war sehr tief, fast heiser. Eine dunkle Stimme, befehlsgewohnt, die nicht zu brüllen brauchte, damit man ihr Beachtung schenkte. Eine Stimme, dachte Longsela, die gar nicht brüllen konnte.
    »Mir geht es recht gut«, erwiderte sie. »Danke, dass du uns befreit hast.«
    Er zuckte kurz und schnell mit den Schultern.
    »Sie haben ihr blaues Wunder erlebt. Keiner entkam. Sie haben das Dampa-Sangye-Kloster zerstört und alle ermordet, die
sie fanden. Als ob sie nur die Funktion hätten, alle zu foltern und zu töten, die keine Kommunisten sind. Wir verzeihen das nicht, obwohl Seine Heiligkeit uns beständig mahnt, Blut nicht mit Blut zu vergelten. Nun, wir sind oft im Gewehrfeuer und haben kranke Ohren. Wir hören schlecht, was Seine Heiligkeit sagt. Es ist möglich, dass mein Schwager sich retten konnte; ich fand ihn nicht unter den Toten. Sein Name ist Dasang. Gestern war ich noch einmal dort oben. Aber die Vögel waren vor mir da, und sie haben saubere Arbeit geleistet …«
    Er verzog unfroh die Lippen. Longsela holte schlürfend Atem. Dem Grauen war sie entronnen, aber die Erinnerungen waren immer da und würden sie unentwegt verfolgen. Würde sie es einmal schaffen, dem Gedächtnis einen Riegel vorzuschieben? Longsela glaubte es nicht.
    »Dasang ist tot«, hörte sie sich sagen.
    Er blickte sie düster und aufmerksam an.
    »Woher weißt du das? Und woher kennst du seinen Namen?«
    Sie ließ sich erschöpft zurücksinken.
    »Ich betete für ihn, als er starb …«
    Stockend erzählte sie, was sie erlebt hatte. Kanams Züge hatten plötzlich alle Undurchdringlichkeit verloren, zeigten Verzweiflung und Zorn. Er war ein Kämpfer, aber nicht gleichgültig gegenüber dem menschlichen Schmerz, und unendlich erschöpft, von Gram

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