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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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und Müdigkeit gezeichnet. Stumm schaute er sie an. Longsela spürte, dass er keine Hoffnung mehr in sich hatte. Sie sah es in seinem Blick, in der Bewegung der Augen. Ich kann das nicht ertragen, dachte sie.
    Schließlich nickte er.
    »Um ganz offen zu sein, ich habe Ähnliches vermutet. Die heiligen Vögel sehen uns vorübergehen. Sie rufen uns und mahnen uns an unser Schicksal. Ein Mensch, der ihre unbarmherzige - und doch so barmherzige - Stimme vernimmt, soll sich nicht zu fest an sein Leben klammern. Der Kampf, den
wir führen, ist aussichtslos. Die Chinesen erwarten unsere Niederlage. Aber vielleicht, in einem späteren Zeitalter, werden die Götter siegen.«
    Er verstummte ein paar Atemzüge lang, bevor er das Haupt vor Longsela beugte. Die Garne, die seine ergrauten Haarflechten verknoteten, warfen einen rubinroten Schein.
    »Ich danke dir. Du hast Dasang unendlich viel Gutes erwiesen. Ich stehe in deiner Schuld. Womit kann ich sie dir vergelten?«
    Longselas Magen war verkrampft, ihr Herz kalt wie Eisen. Sie zögerte und entschloss sich endlich zu reden.
    »Ich muss dich etwas fragen. Erkennst du mich nicht?«
    Er hob die Kerze, damit das Flämmchen ihr Gesicht beleuchtete. Longsela wich leicht zurück, blinzelte. Noch immer schmerzte ihr das Licht in den Augen. Kanam nahm die Kerze wieder weg.
    »Wenn ich dich so ansehe … ja, etwas an dir …«
    »Ach«, seufzte Longsela, »wie alt und hässlich ich geworden bin!«
    »Nein«, erwiderte er sanft. »Du bist nur krank und ausgehungert.«
    »Wenn du mich nicht erkennst«, sagte Longsela, »erkennst du vielleicht diesen Schmuck?«
    Sie tastete in den Ausschnitt ihrer Tschuba und brachte die Kette zum Vorschein. Kanams Blick wurde starr. Das Zwielicht verwischte die Farben der Dzi-Steine, und auf Longselas dunkler, abgemagerter Haut leuchteten sie wie getrocknetes Blut.
    »Teslas Dzi-Steine!«, murmelte Kanam. »Jetzt weiß ich, wer du bist. Du bist die Tochter des Arztes, der einst meinen kleinen Sohn Alo heilte.«
    So viel Erschütterung schwang in seiner Stimme mit, dass Longsela der Atem stockte. Krampfhaftes Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. Sie konnte nur wortlos nicken. Kanam legte
seine Hand auf die ihre. Sie fühlte sich ganz in der Wärme dieser Hand geborgen.
    »Es ist seltsam«, sprach er dumpf, »wie das Schicksal uns wieder zusammenführt. Da ist etwas zwischen uns. Ein Zeichen? Ich weiß es nicht …«
    Er hielt inne. Sie hätte sagen wollen: Hilf mir, nur du kannst mir helfen! Doch für ihn gab es andere Dinge, die wesentlicher waren; den Kampf gegen ein Verhängnis, größer als ein verlorener Krieg: das unerbittlich voranschreitende Ausmerzen einer Lebensweise. Und so schwieg sie denn, und er verließ sie.
    Später erzählte Ani Yudrön Longsela, wie ihre Befreiung zustande gekommen war. Die Rebellen wussten, dass man an diesem Kontrollposten Reisende ausraubte und gefangen nahm, bevor man sie in Arbeitslager brachte. Von den dort an Hunger oder Krankheiten Gestorbenen, die man in Massengräbern verscharrte, hieß es, sie seien nicht wert gewesen zu leben, weil sie keinen nützlichen Beitrag für ihr Land leisten konnten. Nun hatten die Rebellen den Lastwagen überfallen, den Lenker und die mitfahrenden Soldaten überwältigt und ihre Uniformen erbeutet. Auf diese Weise konnten sie die Wachtposten überlisten.
    Ani Yudrön erzählte, das Kampfgebiet dehne sich bis in das Herz von Lhasa aus. Es habe große Zerstörungen gegeben, und viele Menschen seien getötet worden.
    »Doch Seine Heiligkeit konnte rechtzeitig fliehen und befindet sich in Indien in Sicherheit«, fügte Ani Yudrön tapfer lächelnd hinzu. »Diese Nachricht ist unbedingt zuverlässig.«
    »Die Götter seien gelobt«, murmelte Longsela.
    Von Yeshe erfuhr sie, dass die Soldaten Telsens Maultier geschlachtet und verspeist hatten. Die beiden anderen Tiere waren, obwohl in bedauernswertem Zustand, noch am Leben. Die Rebellen hatte sie mit genügend Futter und Wasser versorgt, sodass sie sich allmählich erholten. Yeshe hatte auch Sattel und Zaumzeug wiedergefunden. Die Chinesen hatten
keine Verwendung dafür gehabt. Longsela erfuhr auch, dass die Rebellen sich zum Aufbruch bereit machten. Eine neue Gruppe war bereits mit Pferden eingetroffen. Die Rebellen hatten Funkgeräte und Waffen erbeutet. Die Bunker würden sie sprengen. Sie hatten den Gefangenen Zeit gelassen, um sich zu erholen, doch länger wollten sie nicht bleiben. Die Volksarmee ließ niemals locker. Die Gefahr,

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