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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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dass Soldaten mit Verstärkung anrückten, nahm täglich zu.
    »Wohin gehen die Khampa?«, fragte Longsela Ani Yudrön, die ihr diese Nachrichten überbrachte.
    »Die meisten nach Lhasa, weil dort gekämpft wird. Uns werden sie mit dem Lastwagen bis zur Kiychu-Fähre bringen. Sie riskieren ihr Leben dabei. Die Chinesen beobachten jede Bewegung auf den Hauptstraßen.«
    Longsela verstand, dass die unterernährten und geschwächten Menschen die Kämpfer nur aufhalten würden. Doch sie selbst musste ihre Chance nutzen.
    Sie war in diesen Tagen wieder zu Kräften gekommen. Das Gehen fiel ihr noch schwer; sie ermüdete schnell. Aber sie traute sich wohl zu, dass sie reiten konnte. Sie machte sich auf die Suche nach Kanam und sah ihn mit einigen seiner Männer im Schatten einer Felswand sitzen. Die Khampa hatten in einem der Bunker eine Karte von Tibet gefunden, in der sämtliche Kontrollsperren eingetragen waren. Die Karte war für sie ein wertvoller Fund. Die Männer rauchten und unterhielten sich leise, wobei sie einander die Hände auf die Arme legten und die Finger in der Zeichensprache bewegten, die unter Rebellen üblich war. Longsela kauerte sich abseits und störte sie nicht. Wie ein Häufchen Erde muss ich aussehen, dachte sie mit einer Art belustigter Distanz. Dabei bemerkte sie, dass Kanams scharfe Augen dann und wann zu ihr hinüberglitten. Er hatte bemerkt, dass sie mit ihm sprechen wollte. Als die Männer sich nach der Beratung trennten, kam er auf sie zu. Er stapfte ihr mit seinen Schaftstiefeln entgegen und setzte sich
neben ihr auf die Fersen in einer Stellung, in der er stundenlang verharren konnte. Sein schwarzer Umhang, mit einer Silberspange am Hals geschlossen, lag um ihn herum, im Staub ausgebreitet. Die Arme hatte er locker um die Knie gelegt.
    »Wir bringen euch zur Fähre«, sagte er. »Man wird euch über den Fluss setzen. Danach seid ihr in Sicherheit.«
    Longsela antwortete ruhig.
    »Nein, Kanam. Mein Mann ist tot. Ich bin ohne Nachricht von meiner Mutter und von den Kindern. Für mich ist jede Stunde kostbar. Ich will mit euch reiten!«
    »In deinem Zustand?«
    Sie straffte sich, wobei sie ein kleines Lächeln zeigte.
    »Siehst du denn nicht, dass ich stark wie ein Berg bin?«
    Sie sah das plötzliche Aufglühen der scharfen Augen in der unbeweglichen Maske seines Gesichts, das Aufblitzen weißer Zähne hinter dem harten Mund.
    »Soll ich mich vor dir fürchten?«
    Sie antwortete in leisem, selbstbewusstem Ton.
    »Und ich mich vor dir?«
    Sein Gesicht wurde wieder starr.
    »Wie starb dein Mann?«, fragte er. »Willst du darüber sprechen?«
    Er drehte sich eine Zigarette, um es ihr leichter zu machen, um ihr die Entscheidung zu überlassen, ob sie ihm davon erzählen wollte oder nicht. Sie betrachtete ihn prüfend, bevor sie den Kopf auf die Arme legte.
    »Er wollte mit dem Flugzeug nach Lhasa, um die Kinder zu holen. Das Flugzeug wurde abgeschossen. Es waren die Rebellen, Kanam. Es wurde im Radio gesagt.«
    »War es die Maschine aus Darjeeling?«
    »Ja. Woher weißt du das?«
    Er rauchte schweigend. Die Sonne sank über die Berggipfel, und das sanft gewordene Licht blendete die Augen nicht mehr. Ob die leichten Nebel des Abends die Nacht oder den Tod verkündeten?
Ein Frösteln überlief Longsela. Was wusste Kanam? Warum zögerte er, statt weiterzusprechen?
    »Ich hätte gern eine Zigarette«, sagte sie.
    Er machte ihr eine bereit, zündete sie ihr an der eigenen an. Sie inhalierte den Rauch.
    »Ich möchte, dass du mir jetzt sagst, wie es dazu gekommen ist.«
    Er wartete einen Augenblick, ehe er von Neuem zu ihr sprach.
    »Du hast Dasang gesehen. Und alle anderen. Du weißt, wie sie gestorben sind, ja?«
    Sie nickte; in ihren auf ihn gerichteten Augen schimmerte der Sonnenuntergang. Kanams nächste Worte waren von unerbittlicher Deutlichkeit.
    »Was ich damit sagen will: Ihr Tod war milder als der Tod, den politische Gefangene in Folterkammern erleben.«
    Beide rauchten nach Art der Buddhisten, indem sie die Zigarette nicht in den Mund steckten, sondern zwischen Handfläche und kleinem Finger hielten, während sie den Rauch durch die gekrümmten Finger einsogen.
    »Ich glaube, es ist wichtig, dass du das weißt«, setzte Kanam hinzu.
    Sie lehnte sich mit ihrem ganzen Oberkörper an den Felsen. Kanam sprach weiter.
    »Es gibt Männer, die für all die schrecklichen Dinge verantwortlich sind. Sie bilden Perverse aus, die Spaß daran haben, Menschen auf jede erdenkliche Art zu quälen.«
    In

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