Das Haus der toten Mädchen
musst du dich entscheiden. Und zwar schnell, ich habe es allmählich satt, auf dich zu warten.“
„Zehn Minuten, sagst du?“ Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war eine zierliche, altmodische Uhr, die zu viel gekostet hatte und nicht genau ging. Im Augenblick ging sie gar nicht.
Er warf einen Blick zum Himmel. „Beeil dich besser, Sophie. Die Dunkelheit rückt an. Und mit ihr der Sensenmann.“
„Klingt, als wäre es dir lieber, wenn ich weglaufe“, teilte sie ihm mit fester Stimme mit. „Warum? Warum versuchst du mich zu vertreiben?“
Diese Frage traf ihn unvorbereitet. „Vielleicht weil das das Klügste ist, was du tun kannst. Ich bin ein gefährlicher Mann, Sophie. Und aus irgendeinem Grunde möchte ich, dass dir nichts zustößt.“
„Ich dachte, du bist scharf auf mich, und Schluss. Und vielleicht habe ich es satt, immer auf Nummer sicher zu gehen.“ Sie hatte keine Ahnung, woher diese Worte gekommen waren. Sie wusste nur, dass sie wahr waren.
Er stand auf und machte einen Schritt auf sie zu, aber da verließ sie plötzlich der Mut. Sie gab Fersengeld, rannte, so schnell sie konnte, den Weg zum See hinunter.
Das war nicht der erste Fehler, den sie heute Abend gemacht hatte, und es sollte nicht der letzte bleiben. Es war nur einer in einer ganzen Reihe idiotischer Züge, über deren verheerende Konsequenzen man sich dann nicht wundern durfte. Prompt verlor sie den Pfad aus den Augen.
Es war eigentlich nicht ihre Schuld. Sie hatte schon tagsüber nicht viel Zeit in diesem Wald verbracht, und nach Einbruch der Dunkelheit erst recht nicht. Die endlosen Instandsetzungsarbeiten im alten Haus hatten sie viel zu sehr mit Beschlag belegt.
Und sie hatte ein paar wirklich nervenaufreibende Tage hinter sich, die in Grace’ Wahnsinn ihren krönenden Abschluss gefunden hatten – und in John Smiths Bekenntnis, dass er kein anderer war als Thomas Ingram Griffin. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm das glauben sollte. Sie wusste nur, dass sie sich schier zu Tode fürchtete und dass sie so schnell wie möglich nach Hause wollte, wo sie die Türen hinter sich abschließen würde.
Zum Glück war Doc da. Die verlogene, tückische Schlange, die das Whitten-Haus gemietet hatte, würde es nicht wagen einzubrechen, solange er sich im Haus aufhielt. Nicht dass Doc einen besonders eindrucksvollen Bodyguard abgegeben hätte, aber zur Abschreckung reichte er. Griffin würde nicht an sie herankommen.
Nachdem sie eine Weile orientierungslos herumgeirrt war, blieb sie mit glühendem Gesicht stehen. Sie hatte mit ihm geschlafen. Das war verrückt, dämlich, selbstzerstörerisch, unfassbar. Und sie konnte nicht aufhören, daran zu denken, spürte immer wieder seine Hände auf ihrer Haut, erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte.
Sie stieß ein hilfloses Wimmern aus. Irgendwie war sie vom Hauptweg abgekommen und steckte nun inmitten eines Dickichts, das unglücklicherweise ganz aus Brombeerbüschen zu bestehen schien. Die Ranken verfingen sich in ihrem Haar und ihrer Kleidung und zerkratzten ihre Hände, als sie ihr Gesicht abzuschirmen versuchte, und je mehr sie sich bemühte, sich zu befreien, desto mehr verhedderte sie sich.
Sie spürte, dass er da war, noch bevor er den Mund aufmachte, konnte aber nicht erkennen, wo er stand. „Wenn du ganz still hältst, hole ich dich da raus“, sagte Griffin.
„Ich komme schon allein zurecht.“ Sie wusste nicht, ob er sich hinter oder vor ihr befand – aber eins war ihr klar: Ihre Flucht hatte hier ihr Ende gefunden.
„Ich habe erst geglaubt, du wärst ein Bär, der sich im Gebüsch verfangen hat“, meinte er schleppend. „Du machst jedenfalls Lärm wie ein Bär.“
„Hau ab, oder ich schreie.“
„Und wozu soll das bitte führen? Hier hört dich niemand. Die Bäume verschlucken jedes Geräusch, und der Wind bläst in Richtung See. Unten am städtischen Strand hört man vielleicht irgendwas, aber selbst der lauteste Schrei wird über die Entfernung zum kümmerlichen Piepser. Womöglich hält dich irgendwer für einen Seetaucher.“
Sie hörte, wie er näher kam, konnte ihn aber noch immer nicht sehen. Sie versuchte sich loszureißen, aber ihr Rocksaum wurde von unzähligen Dornen festgehalten, und wenn sie sich bücken wollte, um ihn zu befreien, zerrten die stacheligen Zweige an ihrem Haar.
„Halt still“, wies er sie an. „Du verletzt dich sonst nur.“
Jetzt erblickte sie ihn im Mondschein, und sie vernahm scharfe Geräusche, während er sich zu
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