Das Haus der toten Mädchen
zurück und machte eine ermunternde Geste.
Sie schaute an ihrem Kleid hinunter. Es war jetzt nicht mehr als ein Lumpen; der Saum fehlte, und es hing in Fetzen um ihre langen Beine. Beim hysterischen Kampf mit den Ranken hatte sie ihre Schuhe verloren, aber da sie diesen Sommer eine Menge barfuß gelaufen war, würden ihre Fußsohlen den Gang über den Dornenteppich wohl überleben.
Sofern der Rest von ihr überlebte. Sie versuchte, tief durchzuatmen, um zur Ruhe zu kommen, aber dafür war es zu früh: Ihr Puls raste, und sie keuchte noch immer, so sehr hatte ihre wilde Jagd durch die Brombeerranken sie erschöpft. Und der Mann, der da vor ihr im silbrigen Mondschein stand, trug seinen Teil zu ihrer Furcht bei – zumal ihm ein Messer im Gürtel steckte.
Er bemerkte, wie sie es anstarrte, und ein leicht ironisches Lächeln huschte über sein Gesicht. Er hielt ihr das Messer hin. „Würdest du dich besser fühlen, wenn ich es dir gebe?“
„Ich fürchte, es wäre mir keine große Hilfe, wenn du mir wirklich etwas antun wolltest. Du bist viel größer als ich – und schneller.“
„Ja“, bestätigte er – nicht sonderlich beruhigend. „Aber du könntest mir damit ein paar Kratzer zufügen, und wenn der Mord an dir untersucht werden würde, wäre ich so der Hauptverdächtige. Solche Spuren am Körper sind schwer anders zu erklären. So haben sie mich beim ersten Mal drangekriegt.“
Seine ruhigen Worte machten die Situation nur noch makabrer. Sie konnte doch nicht im Mondlicht herumsitzen und sich mit einem Killer unterhalten. Oder? Er tat absolut nichts, um ihren Verdacht zu entkräften.
„Hast du?“ fragte sie abrupt.
„Habe ich was?“
„Hast du diese Frauen wirklich umgebracht? Oder zumindest die eine?“
Er zögerte. „Glaubst du wirklich, dass ich dir die Wahrheit sagen würde? Dass du mich einfach nur zu fragen brauchst?“
Sie überlegte einen Moment. Er bedrohte sie, zwar nicht mit dem Messer, aber mit seiner schieren körperlichen Präsenz; sie saß auf diesem Picknicktisch fest. Es gab keine Augenzeugen, niemand wusste, dass sie hier war. Wenn er ein wahnsinniger Killer war, konnte sie nur überleben, indem sie sehr, sehr vorsichtig vorging. Ihm diese Art von Fragen zu stellen war nicht gerade sonderlich subtil.
Sie sah zu ihm auf. Der Mond stand schräg hinter seinem Kopf und verwandelte sein Gesicht in eine Landschaft aus Schatten und Lichtflecken. Seine Augen lagen im Dunklen, aber sie ahnte, welchen Ausdruck sie hatten. Sein Mund war zu einem kalten Lächeln verzerrt, aber sie kannte diesen Mund. Kannte seinen Geschmack. Wollte ihn wieder schmecken.
Und dann wusste sie es plötzlich, mit absoluter Sicherheit, so gewiss wie selten etwas im Leben. Der Mann, der da über ihr aufragte und ihr den Weg versperrte, mochte durchaus Thomas Griffin sein, der wegen Mordes verurteilt worden war. Aber er hatte nie einen Menschen getötet, nicht einmal im Drogenwahn. Sie spürte es in ihren Knochen.
„Ja“, antwortete sie.
„Ja – was?“
„Ja, ich glaube, ich muss dich einfach nur fragen“, erwiderte sie ruhig.
Sein provozierendes Grinsen erlosch, und er nickte. „In Ordnung“, entgegnete er. „Ich werde es dir verraten. Ich weiß es nicht sicher. Ich war betrunken und so bekifft, dass ich bisher nur einen Zipfel des Schleiers lüften konnte. Ich habe ihre Leiche im Geräteschuppen gefunden. Aber ich kann das nicht beweisen.“
Seine Stimme wirkte ausdruckslos, emotionslos. Seine Worte hätten ihr eigentlich Schauer über den Rücken jagen müssen, aber das taten sie nicht.
Sie fand sich auf einmal in einer Oase der Stille und Gelassenheit wieder. Die sanfte Brise vom See war abgeflaut, der Mond stand hoch am Himmel, und der einzige Laut war ihr Atem.
Drüben im Gasthaus lag ihre Mutter, die endgültig dem Wahn anheim gefallen war. Ihre kleine Schwester hielt sich irgendwo da draußen auf und gewöhnte womöglich gerade dem letzten anständigen Teenager von Colby seine guten Manieren ab, und sie war mit einem wegen Mordes Verurteilten allein, der zufällig der erste und einzige Mann war, mit dem sie geschlafen hatte.
Und mit dem sie gleich wieder schlafen würde. Sie wusste es, sie spürte es in ihrem Herzen, in ihrem Magen, zwischen ihren Schenkeln. Und diesmal würde sie nicht auf halber Strecke die Bremse ziehen. Sie würde sogar den ersten Schritt tun, da es unausweichlich war, da sie es wollte oder da sie nicht ganz bei Trost war: Die Gründe spielten keine Rolle.
„Ich
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