Das Haus der toten Mädchen
den Wänden. Das war einer der Gründe für die Schließung des Hospitals gewesen: Es war zu gefährlich, und die Installation zu erneuern hätte zu viel gekostet. Sophie hatte ihm erzählt, dass sie den Trakt wieder öffnen und die Zimmer renovieren wollte, sobald sie das nötige Geld beisammen hatte. Bis dahin war er fest verschlossen, so dass niemand hineingelangen konnte.
Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, den Haupteingang mit Brettern zu vernageln, da sie sich auf die gut erhaltenen, soliden Schlösser verließ. Und natürlich besaß er den passenden Schlüssel.
Marty stöhnte, und Doc beschleunigte seine Schritte. Er stieg die schmale Holztreppe zur Krankenhausküche hinunter. Es war nicht das erste Mal, dass er diesen Ort nutzte, aber es würde das letzte Mal sein. Er wollte die Nacht mit einem grandiosen Feuer beenden – prächtig wie das Feuerwerk, das am vierten Juli über dem See inszeniert wird, dachte er verzückt. Eine letzte Explosion unzähliger Raketen, und dann würde Ruhe einkehren.
Er hatte schon einmal drei in einer Nacht getötet, vor langer, langer Zeit. Er ließ sich lieber Zeit, wählte die Personen und Umstände mit Bedacht, aber vor zwanzig Jahren hatten ihm Lorelei, Valette und Alice das unmöglich gemacht.
Valette war als Erste an die Reihe gekommen, noch blutend von einer stümperhaften Abtreibung. Bei ihr hatte er ein Messer eingesetzt, das angemessene Werkzeug der Gerechtigkeit. Und ihr Vater hatte nie erfahren müssen, dass seine Tochter zu einem derartigen Verbrechen imstande gewesen war. Ein paar Stunden später war Alice aufgetaucht, auf der Suche nach ihrer verschwundenen Freundin, mit verschmiertem Make-up, zerzaustem Haar und dem Geruch von Sex und Sünde.
Und dann hatte er Lorelei gejagt, das dritte Flittchen in der Stadt, denn er war entschlossen, dem lästerlichen Treiben ein Ende zu setzen, Gottes Werk zu tun und seine Strafe auf sich zu nehmen.
Doch die Bestrafung war ausgeblieben. Niemand war auch nur auf die Idee gekommen, dass
er
der gesuchte Vollstrecker der Gerechtigkeit sein könnte. Außer Valette hatte niemand gewusst, dass Lorelei ihn besuchen wollte. In diesen Stunden hatte niemand eines der drei Mädchen gesehen. Außer diesem Satansbraten, der oben im Bed and Breakfast seiner Schwester arbeitete.
Es war eigentlich nicht vorgesehen gewesen, dass ein anderer die Meriten für sein Werk einstrich. Er war immer vorsichtig gewesen und hatte bis zu jener Nacht vor zwanzig Jahren nur selten zugeschlagen, und seine Taten hatten ihn stets mit einem gewissen Stolz erfüllt. Aber die Wege des Herren waren unergründlich, und der Junge schien der ideale Sündenbock zu sein. Er hatte ja auch gesündigt, er war schuldig, tausend Vergehen beschmutzten seine junge, verwirrte Seele. Irgendwann hätte er sicher auch einen Mord begangen – er büßte seine Tat nur vor der Zeit.
Seitdem war er wieder vorsichtiger und wählerischer geworden, und niemand hatte zwischen Abby Lings Autounfall, Sara Ann Whittens Verschwinden und Docs häufigen Fahrten ins weitere Umland je einen Zusammenhang vermutet.
Heute Nacht würden es vier sein. Drei waren Sünderinnen, eine unheilige Familie. Er hätte eigentlich früher erkennen müssen, dass sie von Grund auf verdorben waren. Auf den ersten Blick hatte er sich Marty ausgesucht, denn er wusste, dass sie nach Colby gekommen war, um durch Schwert und Feuer von ihren Sünden befreit zu werden. Da hatte er noch nicht geahnt, dass die Verruchtheit sich durch die ganze Familie zog, von der einfältigen Alten bis zur scheinbar so unschuldigen Sophie. Der Tod würde sie von einem Leben in ärgster Fleischessünde befreien. Er tat ihr nur einen Gefallen.
Ebenso Rima. Sie lag zu Hause im Bett, und ihre blinden Augen starrten die Nacht an. Sie hatte geweint, als er es ihr erzählt hatte. Er hatte ihr nicht begreiflich machen können, dass dies seine Berufung war. Er brachte Leben in die Welt, und wenn nötig, entfernte er es wieder von der Erde. Er tat es aus Menschenliebe. Verderbtheit musste aufgespürt und ausgemerzt werden. Das würde sie doch sicher verstehen?
Aber sie hatte es nicht begriffen. Er wusste, dass seine Rima nicht verdorben war – schließlich hatte sie ebenso wie er um ihre ungeborenen Kinder geweint, unschuldige Engel, denen es nicht vergönnt war, hienieden im Jammertal zu wandeln. Beim letzten war es am schwersten gewesen. Diese Schwangerschaft hatte angehalten, obwohl Rima kränker und kränker geworden war. Und als
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