Das Haus der toten Mädchen
eine rundum zufrieden stellende Existenz aufgebaut, und die dräuende Frage, das große schwarze Loch in seinem Gedächtnis, hätte er weiterhin einfach ignorieren können.
Nicht so Annelise, seine Kanzleikollegin und ehemalige Verlobte. In ihrer coolen, emotionslosen Art hatte sie irgendwann verkündet, es sei an der Zeit zu heiraten. Sie hatte ihn darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie jetzt bereit war, Kinder zu kriegen, und vor seinem inneren Auge war das Bild einer Henne aufgetaucht, die sich aufs Brüten vorbereitete. Klugerweise hatte er seine Vision für sich behalten.
Immerhin war sie clever, sah toll aus und hatte Stil. Und auch im Bett besaß sie Talent. Sie kannten einander gut, hegten Respekt für die Stärken des jeweils anderen und waren bereit, über die Schwächen hinwegzuschauen. Aber Annelise hatte nicht die Absicht, sich von einem Mörder schwängern zu lassen.
„Du musst herausfinden, was damals wirklich passiert ist“, hatte sie ihn klipp und klar angewiesen. „Wir können uns einfach nicht auf die Zukunft konzentrieren, solange die Vergangenheit nicht geklärt ist.“
Die Zukunft interessierte ihn nicht sonderlich, ebenso wenig seine schmutzige Vergangenheit. Die Gegenwart war es, die für ihn zählte, aber Annelise war eine Frau mit klaren Zielen und der nötigen Überzeugungskraft, um diese zu erreichen. Und ihre Bedürfnisse harmonierten in diesem Fall gut mit seinen. Zwanzig Jahre waren vergangen: höchste Zeit herauszufinden, wie es sich wirklich zugetragen hatte. Höchste Zeit, die Vergangenheit zu Grabe zu tragen.
Und dann hatte Annelise die Beziehung beendet. Seine coole, pragmatische Bettgefährtin hatte sich Hals über Kopf in einen ihrer Mandanten verliebt, und als sie sich endlich aufraffte, Griffin das zu sagen, war sie bereits zwei Tage mit ihrem ehemaligen Klienten verheiratet.
Nicht, dass er sich nach ihr sehnte. In Wahrheit irritierte ihn vor allem, dass es ihm so wenig ausgemacht hatte. Daneben verspürte er einen Hauch von Erleichterung, dass sie nicht den Fehler gemacht hatte, sich in
ihn
zu verlieben. Der bloße Gedanke jagte ihm Schauer über den Rücken.
Es musste weitergehen, immer weiter, schärfte er sich ein, während er auf den See und die beiden Alten zuging, die ihn mit unverhohlener Neugier anguckten. Die Frau hatte er noch nie gesehen, da war er sich sicher – obwohl er den älteren Damen von Colby bei seinem ersten Aufenthalt in der Stadt keine große Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie war dünn, seltsam gekleidet, hatte feines graues Haar und wirkte irgendwie abwesend. Vom Aussehen her mochte sie irgendwo zwischen siebzig und neunzig sein, aber er vermutete, dass sie in Wirklichkeit jünger war. Dann trafen sich ihre Blicke, und er war überrascht, mit welch wachen blauen Augen sie ihn betrachtete.
Einen Moment später schienen sie regelrecht zu erlöschen. „Wer sind Sie?“ fragte sie – nicht schroff, eher wie ein kleines Kind. „Doc, wer ist das?“
Shit, dachte er, als er ihren Gefährten wiedererkannte. Doc Henley war genau der Mann, dem er gerne aus dem Weg gegangen wäre – vorerst zumindest. Es war Doc gewesen, der ihm damals die Schnittwunde am Oberschenkel genäht hatte, die er sich beim unachtsamen Umgang mit einer Sense zugezogen hatte. Es war Doc gewesen, der ihn im Gefängnis untersucht hatte, um herauszufinden, ob das Blut, das immer noch auf seiner Haut klebte, sein eigenes war oder das eines anderen Menschen. Derselbe Doc, der die drei Mordopfer zur Welt gebracht und am Ende ihre Totenscheine ausgestellt hatte.
In den Jahren zwischen fünfzig und siebzig hatte er sich nur wenig verändert. Das weiße Haar war dünner, das Gesicht hatte mehr Fältchen, aber der Mund unter dem Pfeffer-und-Salz-Schnurrbart wirkte noch immer so entschlossen wie damals. Er hatte immer noch diesen weisen, freundlichen Blick, in dem aber keinerlei Wiedererkennen aufflackerte, als er Griffin anschaute. Er erhob sich und streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. Eine Hand, die er sicher schnell wieder zurückgezogen hätte, wenn ihm bewusst gewesen wäre, um wen es sich bei seinem Gegenüber handelte.
„Muss unser neuer Nachbar sein, Gracey“, sagte er leichthin. „Ich bin Richard Henley, aber die Leute hier nennen mich Doc. Und das ist Mrs. Grace Davis. Willkommen in Colby.“
Griffin schüttelte ihm die Hand. Der alte Mann war noch immer stark und zitterte kein bisschen. Das Alter hatte seinen Rücken nur wenig gekrümmt, und er befand
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