Das Haus der toten Mädchen
rasierte Gesicht ausblenden und direkt in die Vergangenheit blicken: ins Antlitz eines Jungen, der womöglich ein Mörder war.
Doc schüttelte den Kopf. „Eines der Rätsel, die wir wohl nie lösen werden, nehme ich an. Genau wie die Sache mit Sara Ann Whitten.“
„Whitten?“ hakte Griffin beklommen nach.
„Die siebzehnjährige Tochter der Leute, denen Ihr Haus gehört hat“, erklärte Doc. „Sie ist ein paar Jahre nach den Morden verschwunden. War eines Tages einfach auf und davon, und niemand hat je wieder etwas von ihr gehört. Wenn dieser Junge da nicht noch im Gefängnis gesessen hätte, wären sich alle sicher gewesen, dass sie auch ermordet worden ist.“
„Aber Sie haben doch erwähnt, dass manche Leute ihn ohnehin nicht für den Täter gehalten haben“, sagte Griffin.
Doc sah traurig aus. „Niemand weiß, was geschehen ist. Ob der Knabe ein Massenmörder war oder nur ein eifersüchtiger Liebhaber. Oder einfach ein unschuldiger Streuner, der in eine Sache hineingestolpert ist, die ihm zum Verhängnis wurde. Ist auch egal. Das ist lange her, und die Leute hier wollen davon nichts mehr wissen. Man sollte die Vergangenheit ruhen lassen.“
Griffin schwieg. Die Vergangenheit ruhte nicht, sie verfolgte ihn. Und er würde nicht aufgeben, bevor er sie eigenhändig zu Grabe getragen hatte. Dafür war ihm kein Preis zu hoch.
Sophie wollte keine Zeit verschwenden. Je schneller sie ihn vom Grundstück und aus Martys Einzugsbereich lotste, desto besser. Nicht, dass Mr. Smith Martys Typ gewesen wäre: Ihre Schwester stand auf jung, durchtrieben und dämlich. Smith hatte Grau in seinem Haar, um Himmels willen, und er trug eine Brille mit Drahtgestell. Nicht gerade der Stoff, aus dem Teenagerträume gemacht sind.
Und doch sagte Sophies Instinkt ihr klipp und klar, dass Mr. Smith auf jede leicht beeinflussbare junge Frau absolut unwiderstehlich wirken musste. Selbst sie, gegen alle Gefahren gewappnet und per se hundertfünfzigprozentig desinteressiert, konnte sich seinem Sog kaum entziehen. Diese rätselhafte, düstere Schönheit, gewürzt mit einem Hauch von Gefährlichkeit, war unglaublich verführerisch. Zum Glück gehörte sie nicht zu denen, die sich leicht in Versuchung führen ließen.
Er hatte nicht auf der Veranda gewartet, was sie nicht im Mindesten überraschte. Er war über den Rasen zum Wasser hinunterspaziert, stand mit geradem Rücken am Ufer und blickte über die weite blaue Oberfläche zur unsichtbaren Ortschaft hinüber. Und er war nicht allein.
Zumindest unterhielt er sich diesmal nicht mit Marty, doch die Alternative beunruhigte Sophie genauso stark. Gracey, deren dürrer Körper in ihrer Kleidung fast zu versinken schien, schaute zu ihm hoch, das graue Haar hing ihr lose auf die Schultern. Doc war dabei: ein Segen, immerhin. Dennoch wäre Sophie beinahe die Verandatreppe hinuntergefallen, so schnell versuchte sie ans Seeufer zu gelangen.
„Du hast mir nicht erzählt, dass wir einen neuen Nachbarn haben“, sagte Gracey, als sie sich zu der Gruppe gesellte.
Sophie biss sich auf die Lippen. „Doch, habe ich, Mama. Wir haben gestern darüber gesprochen, weißt du noch?“
Graceys Augen leuchteten einen Moment auf. „Ach ja, Liebes“, antwortete sie. „Jetzt erinnere ich mich. Ich habe dir geraten, dich endlich mal flachlegen zu lassen.“
Mr. Smith verschluckte sich, was der Situation ihre Peinlichkeit keineswegs nahm. Doc reagierte als Erster; er ergriff Graceys schmale Hand. „Bitte, Gracey, wir haben uns doch darauf geeinigt, dass Sie solche Äußerungen unterlassen.“
„Aber es stimmt. Für junge Frauen wie Sophie ist Sex sehr gesund. Außerdem sieht er sehr gut aus, nicht wahr, Sophie?“
Sophie hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. „Er ist nicht mein Typ, Mama. Warum gehst du nicht mit Doc ins Haus und …“
„Was soll das heißen: nicht dein Typ? Du bist zu wählerisch.“ Streng musterte sie den stillen Fremden. „Sind Sie eigentlich verheiratet, Mr. Smith?“
„Nein.“
„Sonst irgendwie gebunden? Schwul?“
„Nein“, erwiderte er. Seine einsilbigen Antworten klangen völlig neutral, und Sophie vermied es, ihn anzuschauen und in seiner Miene eine Reaktion auf das unmögliche Betragen ihrer Mutter zu suchen.
„Hab ich’s doch geahnt“, meinte ihre Mutter triumphierend. „Er wäre ideal, Sophie. Geh du mal zu ihm und schlaf mit ihm. Ich kümmere mich um das Gasthaus. Marty kann mir helfen.“
„Kommen Sie mit, Gracey“, forderte Doc sie
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