Das Haus der toten Mädchen
ihren Lieblingsbecher genommen: den bauchigen blaugrünen. Sie hatte die düstere Ahnung, dass sie nie wieder aus dem Ding würde trinken können, ohne sich diese langen, feingliedrigen Finger vorzustellen, die es umfassten, und seine Lippen, die es berührt hatten. Daran gab es nichts zu rütteln: Dieser Mann hatte den sinnlichsten Mund, den sie je gesehen hatte.
„Ich glaube, ich bin ohne diese Phase besser dran“, verkündete sie und fragte sich zugleich, warum, zum Teufel, sie sich überhaupt auf diese Diskussion eingelassen hatte. Sie spürte den Blick seiner kühlen, dunklen Augen auf ihrem Rücken und war wild entschlossen, sich nicht umzudrehen.
„Vielleicht“, meinte er. „Also, da Ihre Schwester anderweitig beschäftigt ist, könnten Sie vielleicht zu meinem Haus mitkommen und es kritisch unter die Lupe nehmen? Ich wäre für ein paar Anregungen dankbar, welche Arbeiten ich besser nicht selbst erledige und wen ich stattdessen dafür anheuern soll.“
Perplex starrte sie ihn an. Gestern Nachmittag hatte er den Eindruck erweckt, als wäre ihm eine Horde Wikinger willkommener als seine Nachbarin. Jetzt plötzlich gab er sich vergleichsweise umgänglich und erbat sogar ihren Rat.
Das Problem war, dass sie ihm nicht traute. „Ich kann Ihnen die Namen gleich hier nennen …“
„Beunruhige ich Sie, Ms. Davis?“
Ihr blieb nichts anderes übrig, als seinen Blick zu erwidern. Der Mann provozierte sie, und sie war nahe dran, einfach zuzugeben, wie sehr er sie aus dem Konzept brachte. Und wieso.
Aber das wäre dumm gewesen. Keine Frage, dieser Mensch war äußerst attraktiv, und er hatte genau diesen romantisch-versonnenen Gesichtsausdruck, den ein wütendes, verletzliches Mädchen unwiderstehlich finden musste. Wenn Sophie Marty von dieser Verlockung fern halten wollte, musste sie ihren Gegner besser kennen lernen, und Mr. Smith lieferte ihr die perfekte Gelegenheit. Sie konnte sich nicht recht vorstellen, warum er das tat, aber sie musste ihre Chance nutzen.
„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie mich Sophie nennen sollen. Und nein, Sie beunruhigen mich nicht“, fügte sie mit aufgesetzter Unbeschwertheit hinzu. „Ich begleite Sie gern zum Whitten-Cottage und helfe Ihnen, sich einen Überblick über die nötigen Arbeiten zu verschaffen. Ich glaube an gute Nachbarschaft.“
„Oh, das tue ich auch“, entgegnete er, und sie wusste nicht recht, ob da wirklich ein Hauch von Belustigung in seiner Stimme mitschwang.
„Ich sehe nur kurz nach meiner Mutter und sage Marty, wo ich bin.“
„Halten Sie das für eine gute Idee? Ihre Schwester scheint jetzt schon ziemlich sauer auf Sie zu sein.“
„Für Marty bin ich immer die blöde Kuh“, seufzte Sophie. „Ich bin daran gewöhnt. Warum warten Sie nicht draußen auf der Veranda? Ich bin bestimmt gleich bei Ihnen. Im Augenblick scheint hier ja alles ruhig zu sein.“
Er schielte zur Tür hinüber, die Marty gerade zugedonnert hatte. „In Ordnung“, antwortete er und schlenderte in die Morgensonne hinaus.
Aber Sophie wurde das Gefühl nicht los, dass der geheimnisvolle Mr. Smith nicht annähernd so umgänglich war, wie er ihr vorgaukelte.
Und sie fragte sich, ob sie nicht drauf und dran war, einen Riesenfehler zu begehen.
4. KAPITEL
U nten am See saßen zwei Leute und unterhielten sich leise. Die frisch lackierten Adirondack-Stühle glänzten in der Augustsonne. Griffin hätte auf der Veranda bleiben sollen; Sophie Davis würde es bestimmt missfallen, dass er sich ihren Anweisungen widersetzte, aber er war noch nie von der gehorsamen Sorte gewesen. Außerdem sahen die beiden da unten alt genug aus, um als Zeugen der Ereignisse vor zwanzig Jahren in Betracht zu kommen. Vorausgesetzt, sie gehörten nicht zu der Flut von Neubürgern, die sich an Colbys einst so friedlicher Peripherie niedergelassen hatten.
Gemächlichen Schrittes überquerte er den Rasen. Er spielte mit dem Feuer: Was, wenn sie ihn beim ersten Blick in sein Gesicht wiedererkannten? Dann wäre es mit seinen Nachforschungen aus und vorbei, bevor er überhaupt angefangen hatte. Jeder, der sich mit dem Fall befasst hatte, wusste, dass seine Verurteilung nach fünf Jahren aufgehoben und er auf freien Fuß gesetzt worden war, aber das hieß noch lange nicht, dass man auf seine Rückkehr gelassen reagieren würde.
Aber er war nicht an den Still Lake zurückgekommen, um auf Nummer sicher zu gehen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, so hätte er Colby nie wieder betreten. Er hatte sich
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