Das Haus der toten Mädchen
gewagt hatten, länger als fünf Minuten in diesem Heiligtum zu verweilen. Nur die Tür zum Krankenhaustrakt war noch die alte. Sie trug zwar eine frische Farbschicht, war aber vermutlich abgeschlossen oder gar zugenagelt, genau wie damals.
Der Raum wirkte viel einladender als früher. Vielleicht lag das aber nur an dem Duft nach frischem Kaffee und Muffins, der ihn in diese trügerisch friedliche Stimmung versetzte. Gerüchen durfte man nie trauen; sie konnten Erinnerungen wecken und machten einen verletzlich.
Von Sophie Davis war nichts zu sehen, und er wusste nicht, ob er das bedauerte oder sich darüber freute. Sie wäre bestimmt nicht begeistert, dass ihre knackige kleine Schwester mit ihrem knapp verhüllten Hintern vor ihm herumwackelte, und – ehrlich gesagt – fand er das Gehabe auch nicht besonders aufregend. Er war keineswegs immun gegen weibliche Reize, aber Miss Marthe Davis ließ ihn völlig kalt. Vielleicht, weil er sich noch nie sonderlich für Teenager interessiert hatte.
„Also, was haben Sie heute vor, John?“ fragte sie ihn.
Er brauchte einige Sekunden, bevor er bemerkte, dass das der Name war, den er sich zugelegt hatte. Trottel! „Das Haus putzen, das ich gemietet habe. Ich habe den Leuten den Termin meiner Ankunft nicht genau mitgeteilt, und deshalb sieht es wie ein Saustall aus.“
„Ich könnte Ihnen helfen. Wenn es etwas gibt, wovon ich inzwischen was verstehe, ist es Hausputz.“ Sie zog eine Schnute. „Ich bin mir sicher, dass Sie etwas Gesellschaft vertragen können.“
„Tatsächlich bin ich …“, setzte er an, aber sie wackelte schon aus der Küche hinaus.
„Ich zieh mir nur schnell was anderes an!“ rief sie über die Schulter. „Sophie wird mich garantiert nicht vermissen.“
„Zum Teufel“, murmelte er. Auf einer Arbeitsfläche standen handgetöpferte Keramikbecher, und er nahm sich einen und füllte ihn mit Kaffee. Er trank ihn schwarz und hätte beim ersten Schluck fast geschnurrt wie eine Katze. Er hätte es ahnen müssen: Sophie Davis machte einen Kaffee, für den die meisten Männer sterben würden.
Er hätte den Rest wegkippen und aus dieser Küche an das Pulverkaffee-Regal von Audleys Gemischtwarenladen fliehen sollen. Normalerweise gab er Verführungen nicht nach, aber irgendwie ließ ihn seine sonst so eiserne Selbstdisziplin an diesem Ort, an dem er früher schon seinen Hunger und Durst nach Leben gestillt hatte, im Stich. Er wollte zumindest schnell seinen Becher leeren und den Rückzug antreten, bevor Marthe wiederkam.
Zu spät. Vom Flur hallten schon Schritte zur Tür herein und ließen ihn erstarren.
Das Letzte, was Sophie Davis in ihrer Küche vorzufinden erwartete, war der rätselhafte Mr. Smith. Er lehnte sich gegen die Arbeitsfläche, seine langen, eleganten Finger umklammerten einen großen Becher mit Kaffee, und die dunklen Augen hinter der Brille mit dem Drahtgestell schauten sie kühl und berechnend an.
„Was machen Sie hier?“ verlangte sie zu wissen. Sie war zu perplex, um die Höflichkeit zu wahren.
„Ihre Schwester hat mir eine Tasse Kaffee angeboten“, antwortete er. Seine Stimme gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie war gemächlich und tief und sexy und passte überhaupt nicht zu seiner demonstrativen Kühle. Dann drang der Inhalt seiner Worte zu Sophie durch.
„Sie sind Marty begegnet?“ Sie bemühte sich, weder Misstrauen noch Sorge auszustrahlen. Einen kurzen Moment lang hatte sie sich der Illusion hingegeben, Mr. Smith könne für ihre kleine Schwester eine harmlose Ablenkung darstellen. Bei Tageslicht in ihrer hellen und luftigen Küche betrachtet, erkannte sie, dass das unmöglich zu sein schien. Dieser Mr. Smith, das spürte sie, war viel gefährlicher, als sie bisher gedacht hatte.
„Ja.“ Einfach ja – ohne jede Erläuterung oder Verteidigung. Er wirkte kein bisschen befangen, trank seelenruhig ihren Kaffee und guckte sie an.
„Sie ist nicht einmal achtzehn Jahre alt, Mr. Smith“, sagte sie barsch.
„Das hat sie mir mitgeteilt. Nicht, dass es mich interessiert hätte. Neckische Nymphchen sind nicht mein Fall.“
Sie bezweifelte den Wahrheitsgehalt seiner Worte. „Was wäre denn mehr nach Ihrem Geschmack, Mr. Smith?“
Er legte den Kopf schräg. „Ist Ihre Neugier privater oder akademischer Natur?“
Die Rückfrage irritierte sie, aber sie hielt seinem Blick eisern stand. „Ich versuche nur, auf meine kleine Schwester aufzupassen.“
„Und wer passt auf Sie auf?“
Überhaupt niemand, wollte sie
Weitere Kostenlose Bücher