Das Haus der toten Mädchen
Marty magersüchtig werden könnte, aber im Grunde aß das Mädchen genug. Nur sah man das diesem gertenschlanken Körper einfach nie an, was nur bewies, wie ungerecht die Vererbung funktionierte. Sophies Mutter Grace war immer rank und schlank gewesen, während Martys Mutter ständig mit ihrem Gewicht gekämpft hatte. Sophie hätte diejenige sein müssen, die den Stoffwechsel mit der guten Verbrennung geerbt hatte.
Sie nahm sich vor, noch einen Pfirsichkuchen zu backen: ein schrecklicher Fehler, da sie selbst das meiste davon essen würde, aber sie konnte all die schönen Pfirsiche nicht verkommen lassen. Marty hatte, wie üblich, ihr Geschirr in der Spüle stehen lassen; jetzt lag das Mädchen am Seeufer und trieb ihr Hautkrebsrisiko in die Höhe. Sophie schüttelte einfach den Kopf und sortierte die Teller in die Geschirrspülmaschine. Erst als sie nach dem Tontopf griff, in dem sie das Mehl aufbewahrte, bemerkte sie die vergilbte Zeitung auf der Arbeitsfläche.
Zunächst dachte sie, es handele sich um irgendeine Reklamewurfsendung, aber als sie genauer hinschaute, erkannte sie eine alte Ausgabe der „Northeast Kingdom Gazette“. Zwanzig Jahre alt, um genau zu sein. Und die Schlagzeile lautete: „Mord im Kingdom“.
Schlagartig verging Sophie der Appetit auf Pfirsichkuchen. Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, schüttelte sich leicht, weil er so stark war, und nahm die Zeitung vorsichtig in die Hände. Sie klemmte sie unter den Arm, ging auf die Seitenveranda hinaus, stellte den Kaffee hinter sich auf das Fensterbrett und schmiegte sich in die Schaukelbank. Es war ein schöner Tag: Eine sanfte Brise wehte vom See herüber und trug den Duft von Kiefernharz und kühlem Wasser heran, und die Sonne strahlte. Sophie starrte auf die Zeitung mit ihren grob gerasterten Fotos und fing an zu lesen.
Der Bericht war ziemlich nüchtern gehalten, er enthielt sich jeder Mutmaßung und Sensationslüsternheit, was nicht verblüffend war, wenn man bedachte, dass die Reporter und die Eigentümer der Zeitung seit Generationen in Colby lebten und mit allen betroffenen Familien gut bekannt waren. Die ganze erste Seite mit Mordbildern zuzuklatschen war nur möglich, solange man die armen Opfer nicht kannte, nicht aber, wenn es sich um Nachbarn und Freunde handelte.
Es gab ein Foto vom Mörder. Vom mutmaßlichen Mörder, wie es dort hieß, und im Grunde musste man ihn wohl noch immer so nennen, denn schließlich war er wenige Jahre später auf freien Fuß gesetzt worden. Thomas Ingram Griffin schaute so aus wie fast alle Herumtreiber vor zwanzig Jahren: langes Haar und Bart, mit benommenem, aber auch aufsässigem Gesichtsausdruck. Das Foto war im Laufe der Jahre verblichen, aber offenbar von Anfang an nicht besonders gut gewesen. Doch irgendwie kam ihr das Porträt vage bekannt vor. Sophie zuckte mit den Schultern. Nach zwanzig Jahren sah dieser Mann bestimmt völlig anders aus. Er dürfte glatt rasiert sein, kürzeres Haar haben und vielleicht fünfzehn Kilo mehr auf die Waage bringen. Wenn er überhaupt noch lebte.
Die drei Opfer hatte man innerhalb von zwei Tagen gefunden. Alice Calderwood war erwürgt und neben der North Road abgelegt worden, Valette King war an ihren Stichwunden gestorben; der Mörder musste das Messer mit wilder Raserei geführt haben. Ihre Leiche war in einem Maisfeld entdeckt worden. Und Lorelei Johnson hatte mit durchgeschnittener Kehle im Still Lake getrieben, in der Nähe des Rohrkolbenschilfs vor dem Haus der Familie Niles.
Nur Lorelei hatte in Verbindung zu Thomas Griffin gestanden. Die Zeitung drückte es etwas gewunden aus, aber es war klar, dass die beiden es miteinander getrieben hatten. Überhaupt schien sich keines der drei Opfer Männern gegenüber sonderlich zugeknöpft gegeben zu haben. Aus Rücksicht auf die trauernden Eltern waren die Andeutungen dezent gehalten, aber es wurde doch deutlich, dass die drei Mädchen ziemlich zügellos gelebt hatten.
Aber galt das nicht für fast alle Menschen um die zwanzig? Alle außer mir selbst natürlich, überlegte Sophie. Sie hatte nie eine Chance gehabt, über die Stränge zu schlagen und sich auszutoben: Sie hatte zu hart arbeiten und sich ständig um ihre Mutter und das kleine Kind kümmern müssen, das ihre Schwester damals noch gewesen war. Graceys Lebenswandel hatte Sophie eher abgeschreckt, und im College war sie zu fleißig gewesen, um über Jungs nachzudenken – sehr zum Missfallen ihrer Mutter. Und als sie nach ihrem Abschluss endlich
Weitere Kostenlose Bücher