Das Haus der toten Mädchen
ein eigenes Leben beginnen wollte, hatte Marty vor der Tür gestanden, verwaist und elend, und Sophie hatte alle flüchtigen hormonellen Verirrungen ignoriert und sich auf ihre Familie konzentriert.
So manches Mal hatte sie einfach alles hinschmeißen, ihre Verantwortung abstreifen und sich gehen lassen wollen.
Aber sie hatte es nie getan, und wenn man für ein ausschweifendes Sexualleben mit einer durchgeschnittenen Kehle bestraft wurde, war sie wirklich heilfroh, dass sie war, was sie eben war: die einzige dreißigjährige Jungfrau im weiten Erdenrund.
Das war kein Gedanke, bei dem sie gerne lange verweilte, aber die Tragödie der wilden Töchter Colbys machte ihn unausweichlich. Sie schaute kurz zum See hinunter, zum dünnen, nur mit einem Bikini bekleideten Körper ihrer Schwester, der in der Sonne Vermonts briet. Vielleicht war sie zu streng zu Marty. Vielleicht war deren unwirsche Art ja völlig normal.
Sie ließ den Blick weiterschweifen – über den ruhigen, sauberen Halbmond des Strandes –, bis er an den Rohrkolben haften blieb. Dort hatte man Lorelei also gefunden. Dort hatte Thomas Griffin sie gefunden, um genau zu sein. Er hatte ihren Leichnam in den Armen gehalten, als man ihn festnahm, und sein Körper war mit ihrem Blut verschmiert gewesen.
Sophie zitterte und legte die Zeitung wieder hin. Wie war das Blatt überhaupt in ihre Küche gelangt? Sie verspürte keinerlei Drang, in der Vergangenheit herumzuwühlen und über irgendwelche Dramen nachzudenken, die sich vor langer Zeit hier abgespielt hatten. Die ländliche Ruhe, die Colby zu bieten hatte, zog sie den Erinnerungen an diese Mordfälle, die ihr den friedlichen Nachmittag verdorben hatten, allemal vor.
Aber seit Mr. Smith an ihrer Schwelle aufgetaucht war, war die Vergangenheit wieder zum Leben erwacht. Wenn Grace noch besser beisammen gewesen wäre, hätte Sophie sie danach fragen können. Grace hatte True-Crime-Geschichten verschlungen wie andere Leute delikate Appetithappen; sie war bestimmt mit jedem Detail der Still-Lake-Morde vertraut gewesen, und wenn es ein Buch darüber gab, hatte sie es sicher gelesen.
Aber Grace hatte an allem das Interesse verloren. Sie war fast eine Karikatur der Senilität, so wie sie – sanft summend – mit verträumtem Gesichtsausdruck in ihrem Schaukelstuhl saß. Hier draußen konnte Sophie sie zumindest im Auge behalten und sicherstellen, dass sie nicht verloren ging. Und wenn sie etwas zu erledigen hatte, konnte sie sich immer darauf verlassen, dass Doc vorbeischaute und dafür sorgte, dass Grace nichts geschah.
Sie betrachtete Richard Henley als ein Geschenk Gottes. Colby war sein Städtchen, er kannte jeden der ständigen Einwohner und die meisten der Sommergäste, und er kümmerte sich um sie alle, ebenso wie seine stille, bescheidene Frau Rima.
Sophie warf einen Blick auf die brüchige gelbe Zeitung, die neben ihr lag. Vielleicht hatte Doc sie hier gelassen, in der Hoffnung, so Grace’ frühere Begeisterung für alte Verbrechen wiederzubeleben. Sogar ein morbides Hobby war besser als totales Desinteresse.
Er musste sie alle gekannt haben. Er wurde in dem Artikel sogar ausführlich zitiert, wie er die Todesursachen in seiner kühlen Fachsprache schilderte und tröstende Worte für die trauernden Eltern und die ganze Stadt hinzufügte. Seine freundliche, umsichtige Präsenz war vermutlich der Hauptgrund dafür, dass diese grässliche Tragödie die Stadt nicht völlig zerrissen hatte. Das – und der Umstand, dass der Mörder so schnell gefasst worden war.
Sophie nahm die Zeitung wieder auf und blätterte sie durch, fand aber nichts Neues. Keine Fortsetzung. Sie musste in Erfahrung bringen, was geschehen war. Warum war die Verurteilung des Mörders später aufgehoben worden?
Sie legte das Blatt beiseite. Das war nichts, womit sie sich an einem schönen Spätsommertag herumschlagen wollte, an dem sie Wichtigeres im Sinn hatte – zum Beispiel die Zukunft ihrer Schwester, die Sicherheit ihrer Mutter, die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit ihres Bed-and-Breakfast-Unternehmens und die Frage, ob das Haus sie alle drei würde ernähren können. Sie hatte genügend Sorgen, da brauchte sie sich nicht auch noch mit Mord und Totschlag zu belasten. Aber das Thema ließ sie einfach nicht mehr los.
Denn wenn der Verurteilte
nicht
der Täter gewesen war, wer hatte dann vor etwa zwanzig Jahren diese drei Teenager umgebracht – und zwar hier, vor ihrer Haustür? Und wer konnte dafür bürgen, dass es
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