Das Haus der toten Mädchen
Nachbarn.
Was sie aus dem Schlummer gerissen hatte, war das Telefon, aber sie hatte keine Lust abzuheben. Lieber schwelgte sie noch ein bisschen in den behaglichen Erinnerungen an ihren heißen Traum und ließ es sich gut gehen. Um das Telefon sollte sich jemand anderes kümmern, zur Not der Anrufbeantworter.
Das Klingeln brach ab, und sie nahm an, dass sich der Anrufbeantworter eingeschaltet hatte. Immerhin standen Grace und Marty für gewöhnlich viel später auf als sie, und warum sollte heute irgendetwas anders sein? Außer diesem Traum natürlich, der so sinnlich gewesen war, dass man fast Angst bekommen konnte …
Sie kuschelte sich wieder unter die Decke – und erschrak. Sie trug kein Nachthemd. Sie schlief niemals nackt: Ganz unbekleidet fühlte sie sich einfach unwohl. Gracey hatte sich an ihrer eigenen Nacktheit immer freuen können, ja, sie hatte früher sogar etwas leicht Exhibitionistisches ausgestrahlt, und genau darauf schien Sophie wohl mit Prüderie reagiert zu haben. Zum Glück neigte Grace in ihrem Zustand der Verwirrung überhaupt nicht mehr dazu, sich zu entblößen, aber Sophie hatte noch immer diese Abneigung gegen Nacktheit.
Dennoch lag sie nackt im Bett; daran gab es nichts zu deuteln. Und ihr Haar war feucht. Sie drehte sich um, blinzelte zum Wecker hinüber und stieß einen Schreckensschrei aus: Es war nach zehn. So lange schlief sie sonst nie, selbst wenn sie krank war.
Dann rüttelte jemand an ihrer Tür, und sie fuhr hektisch auf. Ihre Schwester rief mit schneidender Stimme: „Der Anruf ist für dich, Schlafmütze. Und unten wartet Besuch.“
„Shit“, entfuhr es ihr spontan, und sofort schossen ihr alle möglichen Details durch den Kopf. Es
war
ein Traum, oder? So dumm konnte sie doch nicht gewesen sein. Und wenn es kein Traum gewesen war, hockte womöglich John Smith da unten, und wie sollte sie ihm noch ins Gesicht sehen?
„Telefon!“ rief Marty noch einmal und stapfte dann den Flur entlang.
Sophie setzte sich auf und stöhnte. Sie war eindeutig nackt, und ihr Haar roch nach dem See. Die Hand, mit der sie den Hörer abnahm, zitterte, aber er gelang ihr, mit fester und geschäftsmäßiger Stimme zu sprechen.
„Ja!“
„Ich glaube, das sagtest du schon.“ Sein Tonfall war trocken und ein wenig ironisch.
Fast hätte sie den Hörer auf die Gabel geknallt, aber ihr Stolz gewann die Oberhand. Okay, also
kein
feuchter Traum. Er musste sie unter Drogen gesetzt haben.
„Ich weiß nicht, worum es geht“, sagte sie frostig. Das war ein schwacher Versuch, aber auf die Schnelle fiel ihr nichts Besseres ein.
Er lachte. Wenn es nicht so demütigend gewesen wäre, hätte sie sein Lachen sexy finden können. Aber Sophie war nicht mehr in der Stimmung, irgendetwas sexy zu finden.
„Wenn du Spaß an solchen Spielchen hast, bitte“, erwiderte er freundlich. „Ich habe nur eine einzige Frage.“
„Und zwar?“ erkundigte sie sich kühl.
„Wo du es dir doch so lange verkniffen hast, wieso hast du ausgerechnet
mir
die Ehre gegeben?“
Sie knallte den Hörer auf die Gabel.
Und der Tag wurde und wurde nicht besser. Marty sah sie schräg an, als sie sich nach unten schleppte; sie fragte sich bestimmt, warum John Smith ihre Schwester anrief und warum diese verschlafen hatte. Sophie ignorierte sie vorerst und steuerte direkt auf den Kaffee zu – nur um in der Küche fast mit Doc zusammenzustoßen, dessen freundliche Augen unter den buschigen weißen Brauen sie ausgesprochen besorgt musterten.
Grace aber schoss mal wieder den Vogel ab. „Er ist ein sehr gut aussehender junger Mann, unser Nachbar“, befand sie einfach, während sie sich noch mehr und immer noch mehr Zucker in den Kaffee schüttete. Grace hatte ihren Kaffee immer schwarz und ungesüßt getrunken. Als Doc endlich bemerkte, was sie tat, nahm er ihr den Zuckerstreuer weg, stellte ihn außerhalb ihrer Reichweite und tätschelte ihr die Hand.
„So jung ist er gar nicht“, antwortete Sophie und versuchte, nicht allzu knurrig zu klingen. Marty hatte den Kaffee gemacht, er war viel zu dünn. Und gerade an diesem Morgen hätte sie den stärksten Kaffee der Welt gebraucht.
„Genau richtig für dich, Schätzchen“, entgegnete Grace mit einem verträumten Lächeln. „Er würde sich um dich kümmern, dich beschützen.“
„Wovor sollte Sophie denn Schutz brauchen?“ wollte Doc wissen. „Sie scheint doch sehr gut auf sich selbst aufpassen zu können.“
„Allerdings“, bestätigte Sophie, aber an ihrer Meinung
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